„Kälte auf der Strasse“
„Kälte auf der Strasse“
„Und der Mensch heißt Mensch
Weil er irrt und weil er kämpft
Und weil er hofft und liebt,
Weil er mitfühlt und vergibt“
Textzeile aus „Mensch“ von Herbert Grönemeyer.
Ich bin ganz grob über Berichte unserer Tour-Teams aus den letzten zweieinhalb Monaten gegangen und habe ein paar Textpassagen zusammengetragen, die ich, um der besseren Lesbarkeit willens, zum Teil ein wenig umgeordnet habe.
Ich danke meinen Vereinskameraden, die diese Erfahrungen bereits aufgeschrieben haben, ganz herzlich.
Warum kommt jetzt eine Wiederholung dessen, was wir geschrieben haben?
Einfach deshalb, weil in kurzer Zeit wieder viele Vorfälle passiert sind, von denen wir etwas mitbekommen haben, weil „unsere Menschen“, die wir jede Nacht auf der Straße treffen, davon erzählen.
Die Vorfälle, die wir nicht mitbekommen, die aber alltäglich auch „unseren Menschen“ passieren, sind natürlich nicht erwähnt, auch nicht die in ganz Deutschland und auch auf der ganzen Welt passierenden Übergriffe, wo Obdachlose beleidigt, bespuckt, geschlagen, getreten, angezündet oder gar ermordet werden.
„Unsere Menschen“.
Natürlich sind es nicht unsere, jeder Mensch ist frei, auch frei in seiner Entscheidung, was er mit und aus seinem Leben macht.
Die Entscheidung, Millionär zu werden bringt nicht sofort ein dickes Bankkonto, aber die Entscheidung, aus welchen Gründen auch immer, auf der Straße zu leben, die steht jedem frei.
Und ja, es gibt viele Gründe. Gründe, die für den einen nichtig sind, für den anderen aber der einzige Ausweg. Gründe, die in einem selbst zu suchen sind, Gründe, die in welcher Art auch immer von außen an einen herangetragen werden.
Aber wir haben Kontakt zu ihnen, wir kennen sie von Angesicht zu Angesicht, von fast allen kennen wir auch ihre Namen, von sehr vielen auch ihre Geschichten und von vielen auch ihre eigene Geschichte.
Wir versorgen und betreuen sie und sie bauen allmählich Vertrauen zu uns auf, deshalb sagen wir „unsere Menschen“, deshalb erzählen sie uns, was sie bewegt.
Aber, da steht „unsere Menschen“. Also auch Menschen. Menschen wie du und ich.
Obdachlose Menschen werden dafür verurteilt, dass sie auf der Straße sitzen, werden getreten, bespuckt, angezündet und verjagt.
„Und der Mensch heißt Mensch …“
Ein Gast sagte nach einer Tour, dass es ihn schwer erschüttert hatte, wie man mit Menschen auf der Straße umgeht, wie respektlos und asozial sie von manch einem anderen Menschen behandelt und sogar heftig angegriffen werden.
„Ich war wütend und fassungslos zugleich“.
Einer „unserer Menschen“ beschrieb den Umgang der an ihm vorbeigehenden Menschen so: „Ich bin für sie ein Geist, ich werde nicht gesehen. Wenn ich nach Geld frage, bekomme ich keine Antwort. Man könnte mir doch zumindest sagen, „nein, bekommst du nicht“ oder „habe ich nicht“. Doch die Frage steht im leeren Raum, als würde ich nicht existieren. Es muss ja auch kein Geld sein, auch eine Kleinigkeit zu Essen oder ein Getränk, darüber würde ich mich freuen. Doch für sie bin ich ein Geist.“
„Und der Mensch heißt Mensch …“
Wir besuchten einen „unserer Menschen“ und als wir fortfuhren und er nur noch unsere Rücklichter erspähen konnte, kam eine Frau zu ihm und fragte ihn, wer wir (Unsichtbar e.V.) denn gewesen seien?
Er erklärte ihr voller Freude, dass wir uns um ihn kümmern, nach ihm sehen und für ihn da sind.
Daraufhin schrie sie, dass wir doch verhaftet und verboten gehören und man sollte solchen Abschaum wie ihn gleich vor die Wand stellen und ihm nicht noch helfen.
Wir hoffen sehr, dass dies ein Einzelfall bleibt, doch wir wissen auch, dass es leider immer wieder Menschen gibt, die respektlos mit Ihresgleichen umgehen.
Wir sagen deswegen Ihresgleichen, weil, egal ob Obdachlose oder wir, ob hinter oder vor dem Vorhang der Gesellschaft, ein Mensch bleibt ein Mensch
– egal welche Hautfarbe,
– egal welche Nationalität,
– egal ob oder was für eine Arbeit er ausführt,
– egal ob arm oder reich,
– egal ob er erfolgreich, arbeitslos oder ein Obdachloser ist.
WIR ALLE SIND MENSCHEN.
„Und der Mensch heißt Mensch …“
Ein junger Mann erzählte in eisiger Kälte, dass er von Ordnungskräften aus einem Vorraum einer Bank rausgeworfen wurde, wo er sich aufwärmen wollte.
Auf seinen Hinweis hin, wie kalt es wäre, bekam er zu hören „Ist mir doch egal, ob du erfrierst!“
Auf einer Tour suchte unser Team nach „unseren Menschen“, dann entdeckten sie sie, auf dem nackten Asphalt im Nieselregen, ungeschützt von Wind und Kälte.
„Ich wurde vertrieben heute Nacht, ich darf nicht drinnen schlafen. Man hat mich hinaus gebracht. Nun liege ich hier und verstehe es nicht.“
„Und der Mensch heißt Mensch …“
Einer „unserer Menschen“ berichtete uns, dass er mit seinem guten Kumpel in der Stadt unterwegs gewesen sei, als dieser sich ganz plötzlich nicht gut fühlte, zusammenbrach und nicht mehr ansprechbar war.
Da aber der Handyakku leer war, konnte kein Notarzt gerufen werden, verzweifelt bat man mehrere Passanten um Hilfe mit der Bitte einen Krankenwagen zu rufen.
Vier Leute interessierte dies überhaupt nicht und sie beschimpften beide sogar mit den Worten: „Ach, wieder mal zu viel gesoffen?“
Etwas unmenschlicheres kann man sich gar nicht vorstellen.
Da liegt ein Mensch sichtlich zusammengebrochen auf dem Boden und es wird Hilfe, zu der man sogar gesetzlich verpflichtet ist, verweigert.
Erst der fünfte Passant konnte überredet werden den RTW zu rufen.
„Und der Mensch heißt Mensch …“
Ein anderer „unserer Menschen“ erzählte Heilig Abend, dass es ein echt krasser Tag war. So kam ein Vater, der mit seiner Familie unterwegs war, vorbei und sagte zu ihm: „Verschwinde, ich möchte mit meiner Familie hier langgehen, ohne den Abschaum zu sehen.“
Eine weitere Frau erzählte uns, ihr wurden 2 Cent geboten, wenn sie sich jetzt gleich vor den nächsten Zug schmeißen würde.
Einfach nur unfassbar. Ohne Worte und das an Weihnachten, dem Fest der Liebe.
Auf einer anderen Tour wurde ein Team gerade noch Zeuge, wie eine Gruppe pöbelnder Menschen am Schlaf-Platz von „unseren Menschen“ vorbeizog und sie aufs übelste verbal anging. Unsere Team-Mitglieder bewegten sich auf das Geschrei zu und sahen noch, wie die Gruppe um eine Ecke bog und verschwand.
Dieses Mal waren es Worte, was ist beim nächsten Mal?
„Und der Mensch heißt Mensch …“
Einer „unserer Menschen“ erzählte uns, dass all das, was ihm wichtig war, all seine Bücher, all sein Hab und Gut, die Papiere und und und, all das wurde ihm gestohlen, bis auf ein Buch mit der Originalunterschrift des Schriftstellers, das trug er bei sich und das ist auch das Einzige, was ihm von allem geblieben ist.
Er wirkte nicht nur traurig, er war es auch, denn er konnte nicht verstehen, dass man denen, die gar nichts mehr haben, auch noch den letzten Rest stiehlt und sich damit auf und davon macht.
Ein weiteres Team berichtete, dass es am meisten das Schicksal eines jungen Mannes berührt hat, der an den Händen und am Kopf tiefe Verbrennungen aufwies. Die Polizei war am frühen Abend zu einem Einsatz zu ihm gerufen worden, weil der Verdacht bestand, dass der Mann von Unbekannten angezündet wurde.
In einem anderen Fall haben unbekannte Täter obdachlose Menschen mit Flaschen beworfen – es kam sogar zu einer Schnittverletzung. An Schlaf war in den nächsten Tagen nicht wirklich zu denken. „Hätte ich nicht eine von den drei Flaschen im Reflex abgewehrt, würden wir hier nur noch zu zweit liegen, denn die abgewehrte Flasche hätte einen von uns am Kopf getroffen“, so die Aussage der Person, die sich dadurch eine Schnittverletzung am Finger zuzog.
Was für ein grausamer Gedanke.
Wie kann man seine stumpfe Wut bloß an denen auslassen, die sich gegen so etwas kaum wehren können? Wir sind fassungslos.
„Und der Mensch heißt Mensch …“
Diese Beispiele sind nur ein kleiner Teil von dem, was wir hören, in mehreren Städten, von verschiedenen Menschen. Und es ist ein ganz kleiner Teil von dem, was überall draußen passiert.
Natürlich sind nicht alle Menschen so.
Was wir auch immer wieder neben schönen und rührenden Geschichten über warmherzige und hilfsbereite Menschen hören, sind Geschichten über Kinder.
Wir kamen mit „unseren Menschen“ auf die kleinsten Menschen in der Gesellschaft zu sprechen, den Kindern.
Uns wurde von eigenen Erfahrungen berichtet, wie Kinder auf diese Menschen auf der Straße zugehen.
„Sie sind viel offener als manch Erwachsene, ihre Blicke sind freundlich und sie haben echtes Mitgefühl.“
„Ihre Eltern ziehen sie oft weg, obwohl die Kleinen gerne helfen würden. Manche sind dann traurig, wenn sie einfach weitermüssen.“
„Ein Kind kam mal zu mir und hielt mir einen 20,- Euro-Schein hin, den konnte ich gar nicht annehmen. Ich sagte zu ihm, dass es sich lieber etwas davon kaufen sollte, da 20,- Euro echt viel Geld sind. Aber es bestand darauf. Sein Vater erklärte dann, dass es jeden Monat 1,- bis 2,- Euro von seinem Taschengeld an die Seite legen würde und es am Ende des Jahres jemanden schenken wolle. Was für eine tolle Geste. Mir kamen damals die Tränen.“
Wir spürten die Dankbarkeit in diesen Worten.
Es gibt auch viele andere Beispiele, wo Grundschüler in ihrer Schule gebastelt haben, wo Kinder ihre eigenen Spielsachen auf einer Auktion verkauft haben, wo Jugendsportmannschaften Getränke und Speisen bei Heimspielen verkauft haben. Der Erlös wurde dann für „unsere Menschen“ gespendet.
Von den Kleinsten gesehen und beachtet zu werden, ganz ohne Vorurteile.
Davon sollte sich manch Erwachsener mal eine Scheibe abschneiden.
„Und der Mensch heißt Mensch …“
Zu Weihnachten, in den Momenten der Zweisamkeit und der Gemeinsamkeit, erreichte uns die Bitte eines obdachlosen Herrn, Euch das mitzuteilen.
„Es ist wie jedes Jahr, der Weihnachtsbaum hat bald seinen Dienst getan, die herzlichen Tage gehen vorüber, das Fest der Liebe kommt erst im nächsten Jahr wieder. Und dann, wenn es so weit ist, wenn all das vorbei ist, werden wir wieder vergessen!“
„Bitte vergesst uns nicht, seht uns weiter, lasst uns nicht alleine und sprecht mit uns, akzeptiert uns und schaut nicht durch uns hindurch – wir sind alles Menschen, sowie ihr auch Menschen seid. Und auch wenn Weihnachten vorbei ist – wir bleiben!“
Niemand ist gezwungen, andere Menschen zu lieben. Einige haben ja schon Probleme, sich selbst zu lieben. Vielleicht ist es ein erster Schritt, andere Menschen zu akzeptieren und dann zu respektieren, satt sie zu hassen?
„Und der Mensch heißt Mensch …“
Weil er irrt und weil er kämpft
Und weil er hofft und liebt,
Weil er mitfühlt und vergibt“
Textzeile aus „Mensch“ von Herbert Grönemeyer.