Oder doch nicht?

Wenn ein Land gewinnt und man das Gefühl hat, die Erde bebt – auf der einen Seite pure Lebenslust und extreme Partylaune, weil Italien gewonnen hat auf der anderen Seite das reale Leben.
Nein nicht die die Europameisterschaft wurde gewonnen – nur ein Gruppenspiel und doch hat es sich angefühlt, als hätten sie gleich auch noch die Weltmeisterschaft gewonnen.
Sollen sie feiern, sollen sie fröhlich sein, sollen sie vor lauter Glück nicht mehr wissen, wie laut sie eigentlich sind. – Alles gut –
Oder doch nicht?
Olaf der mich heute begleitete, lernte auch mal die Seite kennen, die tief geht, traurig ist und emotional nicht mehr viele Türen nach oben offenstehen lässt.
Angefangen hatte der Abend damit, dass wir Meldungen angefahren sind und die erste führte uns nach Wuppertal – eigentlich war diese Meldung ein Hilferuf, eines jungen Mannes, dessen Kühlschrank kurz vor dem Austrocknen stand und wir ihn dann dabei unterstützt haben, morgen erstmal einkaufen zu gehen und das mit Gutscheinen, die ihn und seinen Einkaufswagen, auch an der Kasse vorbeikommen lassen werden.
Dann wäre unsere nächste Meldung eigentlich in eine vollkommen andere Richtung gegangen, doch entschieden wir uns dazu, Wuppertal einmal zu durchfahren und von dort aus dann zur nächsten Meldung zu fahren.
Auf dem Weg von einem Stadtteil in das Andere, viel uns ein älterer Herr auf, dem wir bei dem Wetter erstmal etwas zu trinken angeboten hatten.
Anfangs etwas zögerlich, fing er dann aber ein Gespräch mit uns an und das war ziemlich verzweifelt.
Man merkte in dem was er sagte, dass da vieles tief in ihm nicht zur Ruhe kam – er war einfach nur traurig.
Traurig darüber das seine Frau / Lebenspartnerin im Januar verstorben sei und er es bis heute nicht fassen konnte, dass er sie nach neun Jahren, in der er sie kennenlernen und lieben lernen durfte, nicht auf ihrem letzten Weg begleiten durfte.
Schuld daran war Corona und die Umstände, dass es eben nur seine Lebenspartnerin war, was ihm den Weg im Krankenhaus noch mehr erschwerte, denn dort durften nur Familienangehörige zu dieser Zeit, wenn überhaupt, rein.
Letztendlich verstarb sie dann ohne ihn, ohne irgendjemand, denn er war die einzigste Person, die es für sie gab und er hätte sie so gerne auf ihrem letzten Weg begleitet, ihr die Hand gehalten, als sie ihren letzten Atemzug machte, ihr noch einmal in ihre Augen schauen wollte, bevor sie diese für immer verschlossen hatte.
Er hätte so gerne an ihrem Krankenbett gestanden, um ihr noch einmal sagen zu dürfen, wie sehr lieb er sie hatte.
Er war einfach nur traurig und dass lies ihn nicht los und seine Gedanken sprudelten nur so aus ihm heraus, auch war er einsam, hatte niemanden zum Reden, niemanden der sich mal um ihn kümmern würde und das ging auch an uns nicht spurlos vorbei.
Sowas geht tief und regt zum Nachdenken an – sowas möchte man nicht selbst erleben, sowas sollte niemand erleben müssen, weil es einfach nur traurig ist.
Jeder Mensch sollte glücklich darüber sein, jemanden an seiner Seite zu haben, geliebt und anerkannt zu werden – glaubt mir – ich weiss wovon ich spreche. Alleine sein ist vielleicht hin und wieder echt toll aber wenn man solche Geschichten hört, dann plötzlich doch nicht mehr.
Wir gaben ihm unsere Karte, sagten ihm er soll anrufen und dass wir eine Stiftung in Wuppertal kennen, die ihm bestimmt helfen könnte.
Wir werden sehen, ob er sich meldet.
Dann ging es weiter in einen anderen weiteren Stadtteil von Wuppertal, dort hatte sich gestern ein obdachloser Herr ein Handy gewünscht, aber leider trafen wir ihn nicht an und danach ging es auf die Autobahn – Kurz Ennepe-Ruhr-Kreis.
Am Ziel angekommen, mussten wir erstmal schauen, wohin wir müssen, und fanden etwas weiter einen Wohnwagen stehen, sowie er uns auch beschrieben wurde.
Einmal klopfen und uns vorstellen brachte anfangs nichts – es war ja auch schon etwas später und ich hätte glaube ich auch nicht aufgemacht.
Als es dann Olaf auch nochmal probierte, öffnete sich die Tür und ein älterer Herr stand vor uns und freute sich erstmal über einen Kaffee und Wasserflaschen und auch er erzählte uns sein Schicksal.
Sein Leben hatte er gearbeitet und den Rest seines Lebens wollte er in Spanien verbringen am Meer, unter der Sonne – dort wollte er sein Lebensabend genießen.
Doch es kam anders.
Ein Herzinfarkt und zeitgleich ein Hirninfarkt machten seine Pläne kaputt.
Mit einer Ambulanzflug wurde er nach Deutschland ausgeflogen, dort wurde er behandelt und kam danach ins Altersheim und das Meer, die Sonne und das ruhige und schöne Leben hatte ein jähes Ende gefunden.
Er fühlte sich eingeengt, die Umgebung tat ihm nicht gut und er wollte einfach nur von dort weg, selbst wenn das für ihn bedeuten würde, auf der Straße zu landen.
Seine Rente wurde ihm komplett eingezogen, um in diesem Heim leben zu können und auch jetzt, wo er gar nicht mehr dort leben würde, wird sie ihm immer noch abgezogen, so als hätte er das Altersheim nie verlassen.
Ein Freund von ihm sei Anwalt und er würde ihn auch vertreten, aber das ginge leider nicht, weil selbst Freunde Geld verdienen wollen und er sich die Anwaltskosten nicht leisten könnte.
So sind sie die Freunde – sie stehen alle hinter dir, aber wenn dann was passiert sind sie entweder weg oder nehmen dir noch den letzten Cent aus der Tasche, um Reibach zu machen.
Irgendwann war das mal anders, da wurde Vertrauen und Vertrautheit noch anders geschrieben, aufgefasst, anders gelebt – heute ist alles irgendwie anders.
Morgen fahren wir wieder zu ihm, noch ein bisschen plaudern und ihm eine Taschenlampe, und ein Radio bringen, damit er nicht im dunklen hinfällt und sich ein bisschen ablenken kann.
Dann wollte Olaf nach Hagen – also ab nach Hagen.
Dort angekommen, war in dem Augenblick, als wir auf den Parkplatz am HBF einbogen, das Spiel Italien : Türkei vorbei und es wurde so entsetzlich laut, dass man teilweise sein eigenes Wort nicht mehr verstanden hatte.
Keine zwanzig Meter daneben, fand dann aber auch das traurige Leben statt. Der Herr, der zwischen einer Wand und einem Laternenmast lag und vollkommen erschöpft schien und tief und feste schlief, wollten wir nicht wecken, sowie die anderen beiden Herren, die sich über einen Kaffee sehr freuten.
Einer von ihnen, nahm sichtlich dankbar einen Schlafsack, eine Isomatte und einen TOM entgegen und danach gingen wir noch eine kleine Runde und hofften, dass die Partystimmung etwas nachlassen würde – denn genau da wo der Autokorso rumfuhr – genau da mussten wir her.
Also Augen zu und durch – mit dem Blick auf die feiernden Menschenmassen und keinen Augenblick daneben, das Leben, wie es dann auch sein kann.
Eine emotionale Tour – herzergreifend und voller Redebedarf, trauriger Geschichten, trauriger Gedanken und traurigen Augenblicken, die wir nun mit ins Bett nehmen.
Wie sagte heute ein Vereinsmitglied zu mir?
Es ist ja keine Arbeit – es ist ja „nur“ ein Ehrenamt – dass stimmt – es ist keine Arbeit, es ist ein Ehrenamt, dass jedem von uns Spaß macht, sonst würden wir es ja nicht tun, aber es ist auch ein Ehrenamt, voller Gedanken, Erlebnisse und leider oftmals gefolgt von traurigen Augenblicken, die einem noch lange begleiten werden.
Euch allen eine gute Nacht