Heute war ich mit Andreas auf Tour.
Heute war ich mit Andreas auf Tour.
Für mich bedeutet das eine Doppeltour – erst die reguläre Runde, später nachts nochmal auf Abruf. Aber so ist das nun mal.
Wir trafen viele Menschen. Menschen, die wir versorgen. Menschen, denen wir helfen möchten. Menschen, denen wir Informationen geben, wo sie Hilfe finden können, um ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen.
Und dann war da dieser Mann, den ich schon vom letzten Mal kannte. Letztes Mal war es etwas schiefgelaufen zwischen uns. Ich hatte einen Witz gemacht, den er nicht verstanden hatte. Ich hatte ihn auf dem falschen Fuß erwischt – im wahrsten Sinne des Wortes, denn sein Bein war schlimm entzündet.
Heute haben wir uns wieder vertragen. Wir haben gelacht und er erzählte mir von seinem Fuß.
Er sagte, er war schon bei der Diakonie. Er war schon beim Arztmobil. Er kannte sogar die Menschen dort mit Namen – was mir zeigte, dass er wirklich da war. Er hatte sich informiert, was jetzt zu tun sei. Ich war wirklich begeistert, wie viel er schon getan hat.
Aber dann erzählte er mir auch, was ihm die Ärzte gesagt hatten: Das Bein muss operiert werden. Er weiß das längst.
Nur… was dann kommt, ist das Problem.
Nach der Operation würde er wieder auf die Straße entlassen. Einfach so. Die Reha könnte er sich nicht leisten. Es gibt keinen Ort, an dem er sich erholen könnte. Kein Bett. Keine Ruhe. Nichts.
Und selbst wenn es eine Reha gäbe – er sagte selbst, dass er nicht wüsste, ob er sie machen würde. Wegen seiner Alkoholerkrankung. Er sei nicht bereit, den Alkohol aufzugeben. Es ist ein Rattenschwanz. Ein Teufelskreis. Und alles führt am Ende dahin, dass es noch schlimmer wird.
Keine Behandlung bedeutet: Es wird schlimmer.
Die Behandlung ohne Reha bedeutet: Es wird schlimmer.
Beides endet vielleicht in einer Sepsis. Vielleicht in einer Amputation. Vielleicht im Tod.
Und dann fragte ich mich, warum es eigentlich keine Orte gibt, an denen solche Menschen in Würde gesund werden können. Auch dann, wenn sie eine Sucht haben.
Das klingt im ersten Moment vielleicht völlig falsch. Aber wenn man ehrlich ist:
Wer nicht bereit ist, seine Sucht aufzugeben, wird sie nicht aufgeben.
Wer nicht aufhören möchte zu rauchen, hört nicht auf zu rauchen.
Wer nicht aufhören möchte zu trinken, hört nicht auf zu trinken.
Wer nicht aufhören möchte, Drogen zu nehmen, wird es nicht tun.
Und trotzdem können genau diese Menschen krank werden. Sie nehmen ihre Sucht mit in ihre Krankheit. Und nur weil jemand eine Suchterkrankung hat, darf er doch nicht bestraft werden, indem man ihm medizinische oder pflegerische Hilfe verwehrt.
Denn diese Sucht ist da. Sie ist Teil des Lebens dieser Menschen.
Es gibt tatsächlich Einrichtungen, die das verstanden haben. Zum Beispiel in Kanada, Finnland und inzwischen auch an einzelnen Orten in Deutschland. Dort gibt es Projekte, bei denen Menschen morgens aufstehen, ihr Bier trinken dürfen – manchmal auch zwei. Und abends trinken sie nochmal eines.
Das klingt für viele völlig falsch. Aber es ist wissenschaftlich erwiesen, dass solche Programme Leben retten können. Sie nennen sich „Managed Alcohol Programs“ (MAP) oder auch „kontrolliertes Trinken“.
Dort bekommen Menschen mit schwerer Alkoholabhängigkeit unter kontrollierten Bedingungen eine festgelegte Menge Alkohol. Dadurch hören sie nicht plötzlich auf zu trinken (was lebensgefährlich wäre), sondern stabilisieren sich langsam.
Sie müssen nicht heimlich trinken. Sie müssen nicht stehlen oder sammeln, um an Alkohol zu kommen. Sie bekommen stattdessen Struktur. Sie gewinnen Vertrauen. Sie bekommen medizinische Betreuung und manchmal schaffen sie es dadurch sogar, irgendwann mit dem Trinken aufzuhören.
Solche Projekte gibt es zum Beispiel:
🔹 Kanada (Ottawa): Managed Alcohol Program „Shepherds of Good Hope“
🔹 Finnland (Helsinki): Housing First mit kontrolliertem Trinken
🔹 Deutschland (Leipzig): Housing First Leipzig mit Modellprojekten zum Alkoholmanagement
Es sind Wege, die zeigen, dass Suchterkrankung und Hilfe kein Widerspruch sein müssen. Und sie geben diesen Menschen etwas zurück, was sie so oft verloren haben: ihre Würde.
Aber solche Einrichtungen sind selten. Viel zu selten. Denn in Deutschland wird genau in diesem Bereich immer wieder gekürzt.
Soziale Mittel werden gestrichen.
Es wird gespart, gespart und nochmal gespart.
Und was passiert dann?
Dann werden soziale Systeme wie Schuldnerberatungen, Streetworker, soziale Anlaufstellen, Selbsthilfegruppen und viele andere wichtige Einrichtungen nach und nach verschwinden. Einfach, weil ihnen das Geld fehlt.
Und die Menschen, die diese Hilfe so dringend brauchen, stehen dann allein da.
Immer mehr Menschen werden keine Unterstützung mehr bekommen.
Immer mehr werden durch alle Raster fallen.
Und irgendwann… irgendwann wird es so schlimm werden, wie es sich kaum jemand vorstellen kann.
Dann wird es hier, in einem der reichsten Länder der Welt, Slums geben.
Slums wie in anderen Ländern.
Mit Menschen, die auf Müllbergen leben.
Mit Menschen, die krank sind, sterbend, allein.
Mit Kindern, die in Zelten groß werden, ohne jemals ein Kinderzimmer gesehen zu haben.
Mit Alten, die ihre letzten Tage unter Brücken verbringen.
Und vielleicht wird es dann irgendwann gar niemanden mehr geben, der sich daran erinnert, dass es mal anders war.
Vielleicht wird es dann still.
Still, weil niemand mehr Kraft hat, laut zu rufen.
Still, weil keine Hilfe mehr da ist.
Still, weil all das, was diese Gesellschaft einmal zusammengehalten hat, einfach verschwunden ist.
Wie ein Lied, das zu Ende geht.
Langsam, leise, Ton für Ton.
Bis nur noch Stille bleibt.
Und wir uns fragen, wann wir aufgehört haben, hinzuhören.
Was man durch einen einzigen Fuß auf welche Gedanken kommen kann.
Noch vor ein paar Jahren hätte man gesagt: „Du spinnst ja.“
Mittlerweile sind solche Gedanken gar nicht mehr so weit hergeholt.
Denkt mal darüber nach.
P.S. Zu langer Text? Wer es kürzer möchte, sollte auf Instagram wechseln.
P.P.S. Wir bewahren die Würde dieser Menschen.
Darum machen wir keine Fotos von obdachlosen Menschen – auch nicht von ihren Händen, Füßen oder anderen Körperteilen. So schützen wir sie davor, erkannt zu werden oder ihre Rückzugsorte offenzulegen.
Jeder Mensch hat ein Recht auf Schutz und Würde. Immer.