Ein Wintermärchen

🎄UNSICHTBAR e.V. – Wir machen sichtbar was viel zu oft unsichtbar bleibt.✨️

Es war der Abend, an dem die Stadt so tat, als wäre alles gut.

Schaufenster glitzerten. Lichterketten hingen wie warme Gedanken über den Straßen. Aus Fenstern fiel Kerzenschein, und irgendwo spielte jemand „Stille Nacht“, so leise, dass es eher wie ein Versprechen klang als wie ein Lied. Menschen trugen Tüten, lachten, drückten sich aneinander, und selbst der Frost wirkte freundlich – als hätte auch er an Weihnachten beschlossen, weniger weh zu tun.

Du standest am Rand dieses Bildes, mitten im Weihnachtsmarkt, und wolltest dich einfach nur kurz fallen lassen. Für einen Moment nicht wachsam sein. Für einen Moment nicht überlegen, was du sagst, wie du guckst, wie du atmest, ob du „richtig“ bist.

Der Duft von gebrannten Mandeln stieg dir in die Nase. Zimt. Vanille. Dieses „alles wird gut“, das man für ein paar Euro in einen Pappbecher gegossen bekommt.

Und dann kam er.

Oder sie.

Ein Mensch, der nach außen perfekt in dieses Weihnachtsbild passte. Freundlich. Charmant. Scheinbar warm. Einer von denen, bei denen andere sofort sagen: „So ein netter Mensch.“ Einer von denen, die sich mühelos zwischen Menschen bewegen wie ein Engel im Mantel – geschniegelt, lächelnd, passend.

Er fragte dich etwas Banales. Ob du auch frierst. Ob du auch diesen einen Stand liebst. Ob du auch findest, dass Weihnachten doch irgendwie… besonders ist.

Du nicktest. Weil es harmlos war. Weil es sich harmlos anfühlte.

Und weil du nicht wusstest, dass manche Menschen Weihnachten benutzen wie Geschenkpapier: außen wunderschön, innen leer – und manchmal ist innen auch etwas, das beißt.

Er blieb in deiner Nähe. Nicht aufdringlich. Im Gegenteil: genau richtig. Unauffällig aufmerksam. Mit diesem Blick, der so wirkt, als würde er dich wirklich sehen – nicht so wie alle anderen. Er lachte an den richtigen Stellen. Er stellte Fragen, die sich anfühlten wie Interesse. Er sagte Dinge, die sich anfühlten wie Verständnis.

Und du – du warst müde vom Alleinsein. Müde vom Starksein. Müde von dem ewigen „Ich mach das schon“.

Also hast du dich ein kleines bisschen geöffnet.

Nicht viel. Nur so viel, wie man an einem Weihnachtsabend eben erzählt. Dass es nicht immer leicht ist. Dass du schon Dinge erlebt hast. Dass du manchmal zweifelst. Dass du dir Nähe wünschst, aber nicht mehr so leicht vertrauen kannst.

Er nickte. Genau richtig. Nicht zu viel. Nicht zu wenig.

Und während du dachtest, da sitzt jemand, der dich ernst nimmt, begann etwas anderes: eine Inventur.

Wie wenn jemand heimlich durch deine Wohnung geht und jedes Fenster zählt, jede Tür, jede Schwachstelle. Nicht, um dich zu schützen – sondern um später zu wissen, wo man ansetzen muss.

In den ersten Tagen danach fühlte es sich an wie ein Wunder. Nicht kitschig, nicht laut. Eher wie: „Endlich mal Ruhe.“ Er schrieb dir. Er fragte, wie es dir geht. Er wollte wissen, ob du gut angekommen bist. Ob du gegessen hast. Ob du geschlafen hast. Kleine Dinge, die groß wirken, wenn man lange zu wenig davon hatte.

Es war nicht nur Aufmerksamkeit. Es war dieses Gefühl, dass jemand dich „wählt“. Dass du wichtig bist.

Und ja, viele nennen das Lovebombing, wenn es zu schnell zu viel wird – aber in deiner Erinnerung fühlt es sich nicht an wie ein Bombardement. Es fühlt sich an wie ein Kaminfeuer. Wie ein Raum, in dem man sich endlich aufwärmen darf.

Nur: Ein Kaminfeuer wärmt, ohne dich zu besitzen.

Hier war etwas anderes.

Es kamen Versprechen, die sich wie Zukunft anhörten, bevor Gegenwart überhaupt stabil war. Es kam Nähe, die dich schneller band, als du es merken konntest. Und es kam diese leise, klebrige Idee: „Wir gegen den Rest.“

Ganz langsam begann er, deine Grenzen zu streicheln, nicht zu respektieren. Nicht direkt. Nie direkt.

Es waren Sätze, die wie Liebe klangen, aber nach Kontrolle rochen:

„Ich will dich einfach nur bei mir haben.“
„Ich vermisse dich so, wenn du nicht antwortest.“
„Du bist alles, was ich brauche.“

Und wenn du Luft brauchtest, Zeit, Raum, dann wurde es nicht einfach akzeptiert. Es wurde… verhandelt. Umgedeutet. In Frage gestellt.

So wie man einem Kind einredet, es sei unvernünftig, weil es weint. Nur dass du kein Kind bist. Und das hier kein Trost war. Das hier war Erziehung.

Du merkte erst spät, dass du immer öfter Dinge „richtig machen“ wolltest. Dass du plötzlich Formulierungen prüfst, bevor du sie abschickst. Dass du dich entschuldigst, obwohl nichts passiert ist. Dass du erklärst, erklärst, erklärst – als müsstest du deine Existenz begründen.

Und dann kam der Moment, in dem das Weihnachtslicht im Inneren ausging.

Nicht auf einmal. Nicht dramatisch. Sondern wie eine Lichterkette, bei der eine Birne nach der anderen stirbt – und du hoffst jedes Mal, dass es nur diese eine war.

Er war plötzlich gereizt. Oder kalt. Oder abwesend. Er stellte dein Gedächtnis infrage. Dein Gefühl. Deine Absicht.

„Das hast du nie so gesagt.“
„Du verdrehst schon wieder alles.“
„Du interpretierst da was rein.“
„Du machst aus allem ein Problem.“

Und du standest da wie jemand, der versucht, in einem Schneesturm ein Streichholz anzuzünden.

Du hast es wieder gut machen wollen. Weil du dachtest, es liegt an dir. Weil du glaubtest, du hättest ihn verletzt. Weil du nicht sehen wolltest, dass du nicht zufällig in einen Streit geraten bist – sondern in ein System.

Ein System, das immer gleich funktioniert:

Wenn du weich bist, wirst du benutzt.
Wenn du stark bist, wirst du bestraft.
Wenn du Grenzen setzt, wirst du zum Feind.
Wenn du schweigst, wird dir Schweigen als Zustimmung ausgelegt.

Du hast gemerkt, wie Gespräche sich verschoben haben. Früher habt ihr geredet. Jetzt war es wie ein Gerichtssaal. Und er war Richter, Staatsanwalt und Publikum in einer Person. Du warst immer in der Position, dich zu verteidigen.

Und wenn du irgendwann nicht mehr konntest, wenn du weintest oder laut wurdest, dann passierte das Perfide: Er blieb ruhig.

Nicht liebevoll ruhig. Nicht deeskalierend ruhig. Sondern überlegen ruhig.

So ruhig, dass du dich danach selbst erschreckt hast.

So ruhig, dass du im Kopf schon hörtest, was später kommen würde, wenn du jemandem davon erzählst:

„Aber der ist doch so nett.“
„Die wirkt total instabil.“
„Vielleicht hat sie wirklich ein Problem.“

Narzisstische Gewalt lebt davon, dass sie nach außen unsichtbar bleibt.

Und Weihnachten ist der perfekte Tarnmantel dafür.

Denn wer glaubt schon, dass hinter dem freundlichsten Lächeln die größte Kälte wohnt? Wer glaubt schon, dass jemand, der beim Plätzchenbacken hilft, dir später in derselben Küche das Selbstwertgefühl aus dem Körper schneidet – ohne ein einziges Messer in die Hand zu nehmen?

Du begannst dich zu schämen. Nicht für ihn – für dich. Für dein „Nicht klar sehen“. Für dein „Warum gehe ich nicht?“ Für deine Angst.

Du sagtest weniger. Du lachtest öfter an Stellen, an denen du nicht lachen wolltest. Du zogst dich zurück, während du nach außen weiter funktioniert hast.

Und ja: Es fühlt sich an wie ein Krieg. Ein Angriffskrieg. Jeden Tag. Nicht mit Bomben, sondern mit Blicken. Mit Halbsätzen. Mit Entzug. Mit diesem ständigen Gefühl, dass du auf dünnem Eis läufst und der andere jederzeit entscheiden kann, ob es dich trägt.

Das Schlimmste ist nicht einmal die Abwertung. Das Schlimmste ist, dass du irgendwann anfängst, dir selbst nicht mehr zu glauben.

Du stehst vor dem Spiegel und fragst dich, ob du übertreibst.
Du liegst nachts wach und gehst jedes Gespräch durch.
Du schreibst im Kopf ganze Romane an Rechtfertigungen, damit du am nächsten Tag nicht wieder „schuld“ bist.

Und in dieser Phase passiert oft etwas, das nach außen aussieht wie Liebe – und innen wie Handschellen: die Rückkehr der Wärme.

Plötzlich ist er wieder nett. Zärtlich. Einsichtig. Reumütig.

„Tut mir leid.“
„Du weißt doch, wie sehr ich dich liebe.“
„Ich hab nur Angst, dich zu verlieren.“

Und du atmest auf. Weil du denkst: Da ist er wieder, der Mensch vom Weihnachtsmarkt. Der Mensch, der dich gesehen hat.

Das ist der Moment, in dem viele bleiben.

Nicht, weil sie dumm sind.
Nicht, weil sie schwach sind.

Sondern weil dieses Auf und Ab das Nervensystem kapert. Weil Hoffnung zur Droge wird. Weil der Körper irgendwann nach dem kleinen Stück Wärme giert, das ihm als Belohnung hingeworfen wird.

Und weil du – als Opfer – meistens ein Herz hast. Und ein Herz sucht Erklärungen, bevor es Urteile fällt.

Aber hier kommt der Satz, den man in Weihnachtsmärchen selten sagt, der aber hier gesagt werden muss:

Mit Liebe kann man keinen Täter gesund lieben.

Narzissmus ist eine schwere psychische Problematik – ja. Und Veränderung ist ohne Therapie, ohne Einsicht, ohne echte Verantwortung kaum möglich. Aber das bedeutet nicht, dass du bleiben musst. Es bedeutet nicht, dass du das aushalten musst. Es bedeutet nicht, dass du dich opfern sollst, damit jemand anderes sein inneres Loch nicht spürt.

Du bist nicht zuständig, jemanden zu retten, der dich ertrinken lässt.

Und jetzt kommt der Teil, der nicht romantisch ist – aber lebensrettend.

Deine Chance ist nicht, ihn zu überzeugen.
Deine Chance ist nicht, „endlich die richtigen Worte“ zu finden.
Deine Chance ist nicht, noch einmal alles zu erklären.

Das ist es, was Narzissten am meisten wollen: dass du redest, ringst, bittest, diskutierst. Weil jede Emotion Nahrung ist. Jede Reaktion Bühne. Jede Erklärung Bindung.

Was sie nicht aushalten können, ist das Gegenteil:

Klarheit.
Grenzen.
Konsequenz.
Stille, die sie nicht steuern.
Menschen, die sich entziehen.

Nicht laut. Nicht als Rache. Sondern als Selbstschutz.

Für dich bedeutet das – ganz praktisch – oft diese Schritte, so unromantisch sie klingen:

Du holst dir jemanden an die Seite, der dich nicht beurteilt.
Du schreibst Dinge auf, weil dein Gedächtnis unter Gaslighting leidet.
Du schaffst kleine Inseln, in denen du wieder du sein darfst.
Du baust Kontakt zu Menschen auf, die dich nicht kleinreden.
Du planst den Ausstieg, statt ihn anzukündigen.

Denn der gefährlichste Moment ist oft nicht der Anfang.
Der gefährlichste Moment ist, wenn du innerlich wach wirst.

Dann wird der Täter häufig lauter – nicht unbedingt in Dezibel, aber in Taktiken: Schuldumkehr, Drohung, Rufschädigung, „du bist krank“, „du zerstörst alles“, „ohne mich bist du nichts“.

Das ist nicht Liebe. Das ist Machterhalt.

Und hier ist der Punkt, an dem ich dir das weihnachtlichste sagen will, was ich in diesem ganzen dunklen Märchen sagen kann:

Du bist nicht allein.

Wenn du dich hier wiedererkennst, dann ist das kein Zufall.
Dann ist das keine Überempfindlichkeit.
Dann ist das nicht „dein Problem“.

Dann ist das ein Muster, das viele erleben – und das viele erst begreifen, wenn sie fast nicht mehr wissen, wer sie sind.

Und wenn du gerade jetzt, in der Weihnachtszeit, dastehst zwischen Lichterkette und innerer Kälte, zwischen Familienbesuch und Angst im Bauch, dann darfst du Folgendes wissen:

Du bist nicht undankbar, wenn du nicht lächelst.
Du bist nicht böse, wenn du Grenzen setzt.
Du bist nicht schuld, wenn du gehst.

Dieses Märchen endet nicht mit einem Kuss unter dem Mistelzweig.
Es endet nicht damit, dass der Täter plötzlich versteht.
Es endet nicht mit einer rührseligen Einsicht am Heiligabend.

Es endet mit etwas viel Echtem:

Mit der Erkenntnis, dass du ein Mensch bist. Kein Besitz. Kein Projekt. Kein Spiegel. Keine Bühne.

Und mit dem Moment, in dem du innerlich sagst:

Genug.

Nicht als Schrei.
Eher wie ein Lichtschalter.
Klick.

Und plötzlich ist da nicht sofort Glück – aber Raum.
Und in diesem Raum passiert etwas, das Narzissten nicht verhindern können, wenn du ihn dir nimmst:

Du beginnst, dich wieder zu finden.

Stück für Stück.
Atemzug für Atemzug.
Tag für Tag.

Vielleicht ist das das ehrlichste Weihnachtsende, das es geben kann:
Kein Happy End.
Aber ein echtes Ende der Gewalt.
Und ein Anfang, der dir gehört.

Anlaufstellen und Hilfe (Deutschland, anonym & kostenfrei):

Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“: 116 016 (24/7, auch Online-Beratung)

Hilfetelefon „Gewalt an Männern“ (anonym, kostenlos; Beratung auch bei psychischer Gewalt)

WEISSER RING – Opfer-Telefon: 116 006 (täglich 7–22 Uhr; Unterstützung nach Straftaten, Vermittlung, Begleitung)

TelefonSeelsorge: 116 123 (Tag & Nacht; außerdem 0800 1110111 / 0800 1110222; auch Chat/Mail)

Wenn akute Gefahr besteht: Polizei 110 / Rettungsdienst 112.