Die Silvesternacht

Die Silvesternacht – eine entsetzliche Treibjagd auf Mensch und Tier

Silvester.

Die Nacht, in der wir uns gegenseitig einreden, dass jetzt alles besser wird.
Neues Jahr. Neues Glück. Neubeginn.

Und dann verwandeln wir unsere Städte für ein paar Stunden in einen Kriegsschauplatz.

Explosionen aus allen Richtungen.
Rauchschwaden.
Sirenen.
Schreie.
Brennende Reste auf Asphalt.

Wenn man nicht wüsste, dass es ein Feiertag ist, könnte man meinen, es ist ein Angriff.

Für viele ist Silvester kein Fest.
Es ist eine Nacht, die man überlebt – oder eben nicht.

Für Tiere ist Silvester kein Ereignis.
Es ist Terror.

Tiere verstehen keine Ironie.
Keine Tradition.
Kein „Ist doch nur Spaß“.

Sie hören Explosionen.
Unvorhersehbar.
Überall.
Immer wieder.

Ihr Körper schaltet auf Alarm.
Nicht metaphorisch.
Biologisch.

Hunde zittern, speicheln, verlieren Kontrolle über ihren Körper.
Katzen erstarren, verkriechen sich, hören auf zu reagieren.

Manche Tiere sind stundenlang nicht mehr ansprechbar.
Nicht beruhigbar.
Nicht erreichbar.

Ihr Gehirn kennt nur noch eins: Gefahr.

Andere fliehen.
Sie reißen sich los, springen über Zäune, rennen blind über Straßen.
Sie werden überfahren.
Sie verschwinden.
Sie sterben.

Jedes Jahr.
Vorhersehbar.
Einkalkuliert.

Aber hey – die Rakete war schön bunt.

Wildtiere: Hetze bis zum Zusammenbruch

Wildtiere haben keinen Rückzugsort.
Kein Wohnzimmer.
Kein „Ich halte mir die Ohren zu“.

Sie tun das Einzige, was ihnen bleibt: rennen.

Rehe rennen kopflos über Straßen und Bahntrassen.
Vögel werden nachts aus dem Schlaf gerissen, steigen panisch auf, verlieren Orientierung, schlagen gegen Gebäude oder brechen später tot zusammen.

Mitten im Winter.
In der Zeit, in der jede unnötige Bewegung Energie kostet, die sie zum Überleben brauchen.

Das ist keine Natur.
Das ist keine Romantik.

Das ist eine Treibjagd, ausgelöst durch Freizeitlärm.

Aber keine Sorge:
Es ist ja nur einmal im Jahr.

Und nein – es trifft nicht nur Tiere

Silvester trifft Menschen.
Viele.
Regelmäßig.
Immer wieder.

Es trifft:

alte Menschen, deren Herz bei jedem Knall aus dem Takt gerät
Menschen mit Demenz, die glauben, es brennt oder es ist Krieg
Menschen mit Traumata, deren Körper wieder dort ist, wo sie nie wieder hinwollten
Menschen mit Autismus, deren Nervensystem kollabiert
Babys, die schreien, weil ihre Welt explodiert
Kranke, die Ruhe brauchen und stattdessen Chaos bekommen

Und dann gibt es die, die man gerne übersieht:

Menschen, die auf der Straße leben

Kein Dach.
Keine Tür.
Kein Schutz.

Explosionen direkt neben ihnen.
Manchmal absichtlich.

Schlaf unmöglich.
Sicherheit ein Fremdwort.

Während andere auf Mitternacht anstoßen, hoffen sie, dass nichts näherkommt.
Dass niemand „aus Spaß“ in ihre Richtung zielt.

Neues Jahr.
Gleiche Angst.

Und dann kommen sie.
Immer.

Die helfen, wenn etwas schiefgeht.
Die Körperteile versorgen, weil jemand nicht warten konnte.
Die ruhig bleiben, wenn es laut wird.

Die kommen, wenn der Spaß vorbei ist.

Wenn Blut auf Asphalt liegt.
Wenn Finger fehlen.
Wenn Augen zerstört sind.
Wenn Gesichter verbrannt sind.

Sie knien im Dreck.
Sie fassen an, was andere nicht anfassen wollten.

Während jemand filmt.
Während jemand sagt:
„War doch nur ein Böller.“

Sie sammeln zusammen, was Explosionen übriglassen.
Nicht aus Leidenschaft.
Sondern weil sonst niemand da ist.

Verletzungen sind kein Unglück.
Sie sind Teil des Konzepts.

Jedes Jahr dieselben Bilder.
Dieselben Berichte.
Dieselben Zahlen.

Abgerissene Finger.
Verlorene Augen.
Schwere Verbrennungen.

Nicht nur bei denen, die zünden.
Auch bei denen, die zufällig da sind.

Kinder.
Passanten.
Unbeteiligte.

Aber wir nennen es Tradition.
Das klingt weniger nach Verantwortung.

Am Morgen danach

Stille.
Müll.
Rauch.
Verstörte Tiere.
Übermüdete Menschen.

Und dieser Satz, der alles entschuldigen soll:
„War doch nur einmal im Jahr.“

Ja.

Einmal im Jahr Angst.
Einmal im Jahr Panik.
Einmal im Jahr Verletzte.
Einmal im Jahr Tote.

Wie beruhigend.

Die Wahrheit, die niemand hören will

Wenn unsere Freude nur funktioniert,
weil andere Angst haben,
dann ist es kein Fest.

Dann ist es ein weltweiter Mobbing-Flashmob.
Millionen gegen die Schwächsten.

Mit Countdown.
Mit Applaus.

Glückwunsch.
Wieder ein Weltrekord gebrochen.

Und ganz zum Schluss – ohne Zynismus

Wir denken an die, die nicht feiern.
An Feuerwehr, Rettungsdienste, Polizei, Leitstellen, Notaufnahmen, Pflegekräfte.

An all die, die rausfahren, wenn andere knallen.

Wir wünschen euch von Herzen,
dass ihr am nächsten Morgen alle gesund nach Hause kommt.

Mit heilen Händen.
Mit klarem Kopf.
Und ohne Bilder im Kopf, die man nicht mehr loswird.

Passt auf euch auf.
Danke, dass ihr da seid.