Was ist eigentlich dieses Thema, über das niemand sprechen will

Was ist eigentlich dieses Thema, über das niemand sprechen will, weil es sich anfühlt wie Pest und Cholera zugleich?
Nein – diesmal geht es nicht um Tabuthemen wie Depressionen oder Suizidgedanken, die zwar sehr präsent sind, aber über die immer noch zu wenig geredet wird.
Wir hatten uns auf unserer recht ruhigen Samstagstour über ein ganz anderes Thema unterhalten, eines, über das wir hier auch schon geschrieben hatten… aber eben nicht in dieser Form und auch nicht mit diesen vielen Fragezeichen.
Wir, das waren Andrea und ich: Holger. Wie so oft auf unseren Touren begann ein Gespräch über dieses und jenes. Man spricht natürlich über UNSICHTBAR, unsere Arbeit und den Verein selbst, über Prinzipien, von denen man vielleicht nicht abweichen will, von Vorstellungen, die man sich nicht ausreden lässt, und über Konsequenzen all dessen. Und auf diesem Weg landeten wir bei dem äußerst sensiblen Thema der Einsamkeit.
Wer kennt solche Situationen nicht aus der einen oder anderen Perspektive:
Für die Polizei: „Oh Mann, gut, dass Sie da sind – vielen Dank!“
Für die Feuerwehr: „Wie gut, dass ihr so schnell da wart, vielen Dank an euch alle!“
Für Rettungssanitäter: „Gut, dass Sie so schnell kommen konnten, vielen vielen Dank!“
Das Ordnungsamt, das sich um renitente Falschparker in der Stadt und um Müll im Wald kümmert, die Krankenschwester auf der Station, auf der dein bester Freund gelandet ist, das Pflegepersonal, das deine Eltern versorgt, der Winterdienst, die Müllleute, all die Schichtdienstleister und alle die, die vielleicht tun, was andere nicht tun wollen, was aber eben getan werden muss: Vielen Dank, gut, dass ihr da seid. Auch wenn es gerade zwanzig nach elf, dunkel und kalt ist und alle anderen gerade ins Bett gehen und ihr selbst hundemüde und genervt seid.
Dank und Anerkennung sind wunderbar, und wir alle freuen uns ganz bestimmt darüber – aber letztendlich macht es doch niemand für das Lob, sondern weil es für einen gewissen Schlag Menschen einfach die größte Selbstverständlichkeit ist, zu helfen. Vielleicht sogar eine Bestimmung. Manche Berufe oder Tätigkeiten sucht man sich eben aus, weil man etwas in sich hat, das Tag und Nacht wirken will. Weil man eine Berufung fühlt.
Das alles trifft auch auf Ehrenamtler zu. Auch auf uns bei UNSICHTBAR. Persönlicher Dank, Likes in den Sozialen Medien und offizielle Auszeichnungen und Anerkennungen sind ja auch toll, und das alles hält einen ja auch am Laufen!
Aber wir haben uns gefragt, wo wohl die Toleranzgrenze im Leben sein mag, dass man nicht irgendwann nervlich zusammenbricht, wenn es immer heißt: „Toll, dass ihr das macht. Toll, dass es euch gibt.“ Es gibt nämlich einen Punkt, über den bei alledem nicht oft gesprochen und vielleicht nicht einmal viel nachgedacht wird, vor allem, wenn man nicht selbst davon betroffen ist.
Eine Krankenschwester sagte mir einmal abends, ich könnte jetzt über jede Station gehen und fragen, wer von ihren Kolleginnen und Kollegen Single ist, und ich würde mit einem Ergebnis von so etwa 90 % nach Hause gehen: weil den Zeiten, in denen im Krankenhaus gearbeitet wird, kaum eine Beziehung standhält. Polizistinnen und Polizisten, Feuerwehrleute, Ordnungshüter, Pflegepersonal, Ärzte, Rettungskräfte, Ehrenamt – alles rund um die Uhr im Einsatz. Und ich würde jetzt wetten, dass das Thema „Einsamkeit“ ein sehr präsentes ist, denn viele von diesen Menschen sind definitiv „einsam“. Natürlich wird nicht darüber gesprochen, weil ja auch nicht danach gefragt wird. Einerseits. Andererseits wird es immer noch als Makel gesehen, das zuzugeben: „Ich bin einsam“, denn – was ist los mit dir? Kannst du dich nicht selbst beschäftigen? Geh halt mal irgendwo hin!
Würde mich jemand fragen, wie mein Privatleben aussieht, würde ich antworten:
Ziemlich beschissen. Weil gar keine Zeit dafür bleibt, mal rauszugehen und Menschen kennenzulernen, sich mal zu verabreden, sich vielleicht sogar mal zu verlieben. Das würde ich sagen, aber ich habe auch eine ziemlich lose Zunge und sage die Dinge so, wie ich sie empfinde: Wenn ich doch doof finde, dann sage ich dir das rundheraus. Bestimmt gibt es auch andere, die reden, wie ihnen eben der Schnabel gewachsen ist und die ihr Herz auf der Zunge tragen, aber für viele Menschen ist es schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, ihre Einsamkeit anzusprechen. Viel zu privat, viel zu intim, man könnte sich angreifbar und verletzbar machen, und vielleicht wird man schief angesehen oder ausgelacht für etwas, das einem eh schon selbst auf die Nerven geht… das sich aber nicht so einfach ändern lässt. Zumindest nicht, solange man nicht darüber redet.
Vielleicht sollten wir alle nicht nur lernen, über den berühmten Tellerrand hinaus zu blicken, sondern uns auch mal trauen, uns den ganzen Teller anzuschauen. Verständnis für jemanden aufzubringen – das muss man erst einmal schaffen, ja. Der Weg dahin lohnt sich eigentlich immer, denn man lernt einen Menschen doch erst dann kennen, wenn man ihn nach seinem Inneren fragt. Nach seinen Gedanken und Gefühlen, wenn er zum Beispiel mal wieder gut und nützlich war für die Gesellschaft. „Ich finde das wirklich klasse, dass Sie das machen… Ich würde Sie gerne auf einen Kaffee da drüben einladen, denn ich möchte echt wissen, wie es Ihnen so geht, wenn Sie hier…“ – und das kann man sich jetzt aussuchen – „… wenn Sie hier Feuer löschen/Verletzten helfen/sich beschimpfen lassen/die ganze Station alleine versorgen/immer nachts unterwegs sind/Verbrecher jagen/Essen verteilen/den Müll anderer Leute wegräumen/die ganze Verantwortung haben/oder-oder-oder.“
Es könnte ja sein, dass da echt geile Freundschaften entstehen. Ein inniges Verhältnis, eine irre Liebschaft oder gleich mehrere. Und selbst wenn es nichts davon wird, sondern nur dieser eine, schnelle Kaffee: Vielleicht freut sich dieser Mensch über die Einladung, einfach mal sagen zu können und zu dürfen: „Alles gut, ich mach das ja auch gerne. Aber unterm Strich, weißt du, unterm Strich würde es mir gut gefallen, auch noch richtig geliebt zu werden, denn… naja, ein bisschen einsam fühlt man sich schon, wenn man zwar nachts die Welt gerettet hat, aber im Bad eben nur die eigene, einzelne Zahnbürste steht.“
Was gäbe es zu verlieren? Nichts. Was könnte man gewinnen? Eine Menge. Man muss sich nur dafür entscheiden, dass man mit einem „Nein“ auf so eine Einladung leben kann. Eine Einladung, die eine offene Tür ist – und vielleicht für diesen einen Menschen die Tür, die aus seiner Einsamkeit hinausführt.