Ich muss zugeben
Ich muss zugeben, ich war lange Zeit nicht in dieser Stadt – um diese Uhrzeit. Unsere Teams fahren regelmäßig hierhin, aber eben zu anderen Zeiten. Und doch… es ist verrückt, wie ein paar Stunden, ein bisschen weniger Licht am Himmel, ein bisschen mehr Dunkelheit alles verändern können. Die Stimmung, die Menschen, das, was man sieht… und vor allem das, was man fühlt.
Was ich euch jetzt erzähle… ich weiß nicht einmal, ob ich dafür die richtigen Worte finde. Es ist so krass. Es hat mich tief erschüttert. Es hat mich mitgenommen, so sehr, dass ich nicht weiß, wohin mit all dem, was ich dabei denke und fühle. Enttäuschung, Entsetzen, Traurigkeit – alles auf einmal.
Ich war also wieder in dieser Stadt. Einer Stadt, die immer sagt, sie würde alles für die Menschen auf der Straße tun. Eine Stadt, die zeigen möchte, dass sie kämpft, damit niemand mehr draußen leben muss.
Und wisst ihr… das ist lobenswert. Dafür möchte ich wirklich Danke sagen. Denn wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Aber wenn ich heute ehrlich bin – ich sehe diesen Weg nicht.
Ich habe heute Abend Menschen gesehen und mit ihnen gesprochen, die ich schon so lange kenne. Menschen, die mir einst ihre Geschichte erzählt haben, kurz nachdem sie gefallen sind. Und jetzt… heute… heute habe ich einen von ihnen wiedergetroffen. Und es war, als würde ich jemand völlig Fremdes sehen. Ich möchte nicht ins Detail gehen, weil ich nicht will, dass irgendwer erkennt, wen ich meine. Aber mein Gott… was hat die Straße aus ihm gemacht. Was haben Menschen mit ihm gemacht. Ich habe mich so erschreckt, dass mir kurz die Worte fehlten.
Ich blieb bei ihm. Ich stand hinter meinem Fahrzeug, habe ihn reden lassen, habe ihm zugehört. Eine ganze Stunde. Eine Stunde Zeit. Ein offenes Ohr.
Danach fuhr ich weiter. Ich traf noch jemanden. Auch ihn kenne ich schon lange. Er sah nicht besser aus als früher, eher schlechter. Viel schlechter. Und obwohl er mit mir reden konnte, war in seinem Gesicht diese Leere. Dieses Zeichen dafür, was die Straße mit ihm gemacht hat.
Irgendwann fragte ich nach einem anderen Mann. Einer, der immer an derselben Stelle lag. Ich wollte wissen, ob es ihn noch gibt, ob er noch da liegt, wo er immer lag. Sie nannten mir einen anderen Ort. Ganz woanders. Kein Wunder, dass ich ihn nicht gefunden habe.
Ich fuhr zu diesem Ort. Und wisst ihr… ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, ohne dass es böse klingt. Diese Stadt… sie ist ein einziger Müllhaufen. Überall Dreck, wohin man schaut. Wenn ich dieser Stadt eine Farbe geben müsste, wäre es Grau. Überall hässliche Ecken. Und ein paar Bäume machen das auch nicht besser. Es tut mir leid, aber es ist schlimm. Ganz schlimm.
Alle drei Menschen, die ich heute gesehen habe, haben mir erzählt, wie sehr sich alles verändert hat. Dass die Stimmung draußen noch schlechter geworden ist. Sie haben Angst. Angst, krank zu werden. Angst, einfach weggeschmissen zu werden. Angst, dass sie diese Straße irgendwann nicht überleben.
Ich kenne sie alle schon so lange. Aber heute… heute habe ich sie so gesehen, wie ich sie nie sehen wollte. Der eine, dessen Psyche völlig am Rad dreht. Der andere, der nachts lieber durch die Straßen läuft, weil er Angst hat, im Schlaf überfallen zu werden. Und der dritte… er sagte nur „Ja“ und „Hm“ und legte sich in sein Bett. Ein Bett, das keine zwei Meter von einem Mülleimer entfernt steht, in dem es nur so wimmelt vor Ratten.
Ich mache diesen Job seit zehn Jahren. Ich habe vieles gesehen und vieles gehört. Aber das hier… das hier ist etwas, was mich sprachlos gemacht hat. Es tut weh. Es macht mich unendlich traurig.
Ich dachte immer, Hagen ist schlimm. Hagen ist nicht schön. Hagen ist nicht sauber. Hagen ist nicht immer freundlich. Die Kriminalitätsrate ist hoch. Aber ganz ehrlich… im Vergleich zu dem, was ich heute gesehen habe, ist Hagen ein Luxus-Ressort.
All diese Menschen, die ich heute in diesen abstrusen Situationen gesehen habe… mir wurde mulmig. Niemand lebt so freiwillig. Niemand. Jeder von ihnen hat seine Geschichte. Seine eigene Geschichte, die ihn genau an diesen Ort gebracht hat.
Bei einem von ihnen habe ich etwas getan, was ich noch nie getan habe. Noch nie. Aber die Situation war so schlimm. Ich sah ihn an und fragte ihn plötzlich, ob er glaubt – an irgendetwas, ganz egal was. Er sah mich an und sagte „Ja“. Dann fragte ich ihn, ob ich ihm eine Bibel mitbringen darf. Und er riss den Kopf hoch, schaute mich mit so einer Klarheit in den Augen an und sagte: „Ja. Eine Bibel. Über so eine Bibel würde ich mich sehr freuen.“
Ich weiß nicht, warum ich ihn das gefragt habe. Mein Bauchgefühl. Mein Bauchgefühl hat es mir gesagt. Und es war wohl die richtige Frage.
Ich weiß auch, dass es in dieser Stadt verschiedene Vereine und Einrichtungen gibt. An Sonntagen, an Wochenenden, an anderen Tagen. Es gibt Anlaufstellen, wo diese Menschen hingehen können. Orte, wo sich gekümmert wird, wo nachgeforscht wird, wo beraten wird. Es gibt Vereine, die fahren in den Abendstunden durch die Stadt. Nicht so wie wir, die nachts unterwegs sind. Aber man muss ja auch nicht immer das Gleiche tun. Gerade das macht diese Arbeit so wertvoll – dass jeder das tut, was er am besten kann. Solange das fair bleibt. Solange kein Konkurrenzdenken entsteht. Solange nicht der eine denkt, der andere könnte ihm irgendetwas wegnehmen. Solange nicht schlecht über andere gesprochen wird. Denn wo soll das denn enden? Die Straße ist schon aggressiv genug. Wo soll es hinführen, wenn Vereine und Einrichtungen anfangen, schlecht übereinander zu sprechen? Wo bleibt da der Anstand?
Und all diese Vereine, diese Einrichtungen, diese Menschen, sie alle helfen auf ihre Art. Dafür möchte ich meinen riesengroßen Dank aussprechen. Danke, dass ihr diese Menschen nicht vergessen habt.
Und trotzdem… bei allem, was wir tun, bleibt am Ende eine Wahrheit: Es liegt immer am Menschen selbst, ob er etwas verändern möchte. Niemand von uns kann das für ihn entscheiden. Niemand kann ihm diesen Schritt abnehmen.
Und dann stehe ich da und schaue auf diesen Mann, der da liegt, mit der Nase fast im Müll. Und ich frage mich: Wie tief muss ein Mensch fallen, um so ein Leben zu akzeptieren? Wie schlimm muss etwas gewesen sein, damit er nicht mehr kämpfen kann? Damit er dort liegt, wo es nach Verwesung riecht, wo die Ratten um ihn herumhuschen, wo kein Funke Hoffnung mehr durch den Dreck dringt.
Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es mich unendlich traurig macht. Aber genau deshalb werde ich weitermachen. Immer weitermachen. Für all die, die nicht mehr können. Für all die, die niemand sieht. Für all die, die irgendwann vielleicht wieder aufstehen wollen.
Denn irgendwo, da draußen, spielt immer noch leise die Musik des Lebens. Und ich wünsche mir, dass sie eines Tages wieder laut genug für ihn erklingt.