Was aber ist mit den Angehörigen

Man kann vieles erklären.
Man kann Krankheitsbilder beschreiben, Ursachen benennen, Zusammenhänge aufzeigen.

Man kann sagen: Sucht ist eine Krankheit.

Man kann sagen: Depressionen lähmen.

Man kann sagen: Burnout entsteht aus Dauer.

Man kann sagen: Essstörungen sind komplex.

Man kann sagen: Narzissmus ist eine psychische Erkrankung.

Man kann sagen: Menschen verschwinden manchmal, weil sie keinen anderen Ausweg sehen.

Man kann sagen: Obdachlosigkeit ist ein strukturelles Problem.

All das stimmt.

Und trotzdem fehlt in diesen Erklärungen etwas Entscheidendes.

Das Leben derer, die mittendrin stehen.

Nicht als Patient:innen.
Nicht als Diagnose.
Nicht als Fall.

Sondern als Menschen, die seit Jahren
– mittragen,
– mitfühlen,
– mithoffen
– und mitleiden.

Das Leben der Angehörigen.

Es beginnt oft leise.
– Mit Rücksicht.
– Mit Verständnis.
– Mit dem ehrlichen Versuch, jemanden nicht allein zu lassen.

– Mit dem Warten.
– Mit dem Hoffen.
– Mit diesem inneren Zusammenziehen, wenn eine Tür aufgeht, ein Telefon klingelt, Schritte näherkommen.
– Mit der Frage, die irgendwann nicht mehr laut gestellt wird, weil sie längst Teil des Alltags ist:

– In welcher Verfassung ist dieser Mensch heute?
– Was darf ich sagen?
– Was lasse ich besser?

Angehörige leben häufig in Daueranspannung.
Sie lesen Stimmungen, wägen Worte ab, scannen Räume.
Nicht aus Kontrolle.
Sondern aus Überlebensinstinkt.

Sie nehmen Rücksicht.
Passen sich an.
Verschieben Grenzen – erst vorsichtig, dann selbstverständlich, irgendwann unbemerkt.
Nicht, weil sie schwach sind.
Sondern weil sie glauben, dass Liebe so aussieht.

Sie übernehmen Verantwortung, die nie ihre war.
Sie erklären nach außen, was innen längst brennt.
Sie decken, schützen, puffern ab.
Sie halten Kinder fern von Dingen, für die es keine kindgerechten Worte gibt.
Sie spielen Normalität, damit wenigstens irgendetwas stabil bleibt.

Und während sie all das tun, hören sie immer wieder denselben Satz:
„Hab Verständnis.“

Was sie selten hören:
– Dass es wehtun darf.
– Dass Wut kein Mangel an Mitgefühl ist.
– Dass Erschöpfung kein persönliches Versagen bedeutet.
– Dass Nein sagen kein Liebesentzug ist.
– Dass man sich selbst verlieren kann, wenn man zu lange nur hält.

Sucht hat Gründe.
Psychische Erkrankungen haben Gründe.
Auch das Verschwinden eines Menschen hat Gründe.

Aber all das hat Folgen.

Folgen für die, die bleiben.
– Für die, die warten.
– Für die, die hoffen.
– Für die, die vermissen.
– Für die, die nachts wach liegen und tagsüber funktionieren müssen.

Diese Folgen haben Namen:
– Erschöpfung, die sich nicht ausschlafen lässt.
– Misstrauen, das nicht aus Bosheit entsteht, sondern aus Erfahrung.
– Traurigkeit, die keinen konkreten Anlass mehr braucht.
– Ein Alleinsein, das besonders schmerzt, wenn man eigentlich nicht allein sein sollte.

Viele Angehörige haben diese Themen nicht gelesen.
Sie haben sie gelebt.
Tag für Tag.
Mitten im Alltag.

Und deshalb tut es weh, wenn nur erklärt wird.
Wenn nur geschützt wird.
Wenn Verständnis so laut wird, dass der Schmerz der anderen darin untergeht.

Besonders zerstörerisch wird es dort, wo Krankheit unsichtbar bleibt.

Das Leben mit narzisstisch erkrankten Menschen gehört zu den Erfahrungen, über die kaum gesprochen wird.
Nicht, weil diese Menschen „böse“ sind.
Sondern weil Nähe hier zur Dauerbelastung wird.
– Weil Realität verdreht wird.
– Weil Verantwortung verschoben, Schuld umgedeutet, Gefühle entwertet werden.

Still.
Langsam.
Zermürbend.

Angehörige beginnen, an sich selbst zu zweifeln.
– An ihrer Wahrnehmung.
– An ihren Erinnerungen.
– An ihrem Gefühl dafür, was gesund ist.

Sie erklären sich Dinge weg.
Halten aus.
Werden leiser.
Vorsichtiger.
Kleiner.

Und nach außen funktioniert oft alles.
Bis es das nicht mehr tut.

Auch darüber wird kaum gesprochen.
Noch weniger darüber, was diese Dynamiken mit den Menschen machen, die ihnen jahrelang ausgesetzt sind.
– Über die schleichende Selbstaufgabe.
– Über das innere Verschwinden.
– Über den Punkt, an dem nichts mehr bleibt als Überleben.

Und selbst dann, wenn Angehörige daran zerbrechen.

– Selbst dann, wenn sie springen.
– Selbst dann richtet sich der Blick oft wieder nur auf „das große Ganze“.
Auf Erklärungen.
Auf Diagnosen.
Auf Zusammenhänge.

Nicht auf die, die längst nicht mehr können.

Auch das ist Unsichtbarkeit.

Diese Unsichtbarkeit betrifft nicht nur Sucht und Psyche.
Sie betrifft auch Angehörige von obdachlosen Menschen, die plötzlich weg sind.
Von Menschen, die verschwinden, abbrechen, keinen Kontakt mehr halten können.
Von Beziehungen, die nicht offiziell enden, sondern langsam zerfallen.

Auch das hinterlässt Spuren.
Auch das macht krank.
Auch das verdient Sprache.

Es geht hier nicht um Schuld.
Nicht um Anklage.
Nicht um Gegeneinander.

Es geht um Gleichgewicht.

Denn Angehörige sind keine Randnotiz.
– Keine Begleiterscheinung.
– Keine Fußnote in einem
– Krankheitsbild oder einer Lebenskrise.

Sie sind Menschen.
– Mit eigener Geschichte.
– Eigener Belastung.
– Eigener Not.

Und auch sie brauchen etwas, das sie hält.

Dass dieser Text entstanden ist, liegt nicht an einer Theorie.
Sondern an einem ehrlichen, mutigen Perspektivwechsel.
An einer Stimme von der Seite, die ausgesprochen hat, was so viele fühlen – und so selten sagen.

Danke, Domenika Schröder.
Dafür, dass durch deine Worte dieser wichtige Gedankenaustausch entstanden ist.
Ein Text, der nicht nur die sieht, die all das erleben,
sondern endlich auch die sichtbar macht,
die all das miterleben.

🟠 Information (Deutschland):

🔸️Rund 10 Millionen Menschen gelten als Angehörige von suchtkranken Menschen.

🔸️Über 3 Millionen Kinder und Jugendliche leben mit mindestens einem suchtkranken Elternteil.

🔸️Bei Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen zeigen Studien deutlich: Angehörige sind massiv mitbetroffen und tragen hohe Belastungen.

🔸️Es gibt Selbsthilfe-Strukturen speziell für Angehörige, z. B. Al-Anon mit hunderten Gruppen in Deutschland.

🔸️Für Angehörige psychisch erkrankter Menschen existieren u. a. der Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen (BApK) sowie das SeeleFon – Beratung von Angehörigen für Angehörige.