Still sein…

Wir haben 05:03 Uhr, und seit langem sitze ich mal wieder im Auto und schreibe meinen Artikel. Und während ich so vor mich hin schreibe, stelle ich fest, dass es mich erwischt hat.
Mich hat es erwischt, aber es ist keine Grippe, kein Schnupfen und auch kein Fieber oder sonst etwas Schlimmes.
Die linke Schulter müsste mal ausgetauscht werden, aber was soll ich sagen, ist eben so.
Mich hat es erwischt, dass ich mich nach Stille sehne, wie damals, früher als kleines Kind, als ich den schweren Autounfall hatte und danach nicht mehr sprechen wollte, konnte – was auch immer.
Um mich herum war es still, und manchmal kann ich mich gar nicht erinnern, und manchmal umso mehr und viel heftiger, als es mir eigentlich lieb ist.
Der Trick mit der lauten Musik, die es schafft, Gedanken wegzupusten, ist eine Sache, funktioniert auch hin und wieder, aber einfach still sein und sich für einen Moment frei zu fühlen, vielleicht gar nicht mehr das Sprechen anzufangen und alleine in dieser kleinen Welt zu leben, in der ich nun bald schon 55 Jahre lebe.
Vielleicht wäre das ja was, vielleicht aber auch nicht. Ändern würde sich dadurch auch nichts – Menschen würden bleiben, wie sie sind. Die einen falsch, die anderen liebevoll, andere durchtrieben und wieder andere, die über Leichen gehen würden, um an ihr Ziel zu gelangen.
Und da kommt der Wunsch, dieser Gedanke, wieder über mich.
Still sein ist nicht nur wunderschön, aber irgendwie hat es auch seine Nachteile, wenn man dann Vorträge hält, sich in der Nacht mit Menschen unterhält, die auf der Straße leben, mit anderen, die einem begegnen, und all denen, die es gar nicht anders von mir gewohnt sind.
Einfach still sein und auf das hören, was dir der Kopf flüstert, wenn er dann überhaupt noch flüstert, weil er es aufgegeben hat, daran zu glauben, dass du dir selbst überhaupt noch zuhörst und das für dich tust, wonach dein Körper schreit.
Meiner möchte gerade gerne still sein, still in die Ferne blicken und die Daumen drücken, still über diejenigen nachdenken, die dir wichtig waren in all den Jahren und nun aber nicht mehr da sind – einfach still sein, einfach nur still.
Dann stehe ich bei diesem Menschen, unterhalte mich mit ihm, bin nicht still, mache meine Scherze, er lacht, wir lachen, es wird laut, aber definitiv nicht still.
Dann ist das Gespräch vorbei, ich setze mich wieder ins Auto und suche weiter nach dem Menschen, den uns das Ordnungsamt gemeldet hatte. Und während ich in alle Ecken und Gassen hineinblicke, schalte ich das Radio aus, damit es ruhiger wird, damit ich meine Traurigkeit über all das, was überall passiert, auch hören kann, wenn sie nach dieser Stille schreit, die sie bei all dem, was wir so alles leisten, eigentlich verdient wäre, sie auch genießen zu dürfen.
Die Person, die uns gemeldet wurde, fand ich nicht, aber durch Zufall bekam ich mit, dass auch diese Menschen ein Verlangen nach Sex haben – morgens um 02:00 Uhr in irgendeinem Park. Und ich Ochse gucke da auch noch hin – ok, es ist das Natürlichste auf der Welt, aber ich kann und möchte das auch nicht beschreiben. Kurze Zeit später steht sie an unserem Auto und fragt nach etwas zu essen.
„….macht hungrig“, grinst sie mich an, und ich gucke schon wieder hin – mein Gott, warum tue ich das nur, doch würde ich wegschauen und ihr die Suppe reichen, würde das für sie abwertend aussehen, und das soll so auf gar keinen Fall rüberkommen.
Ich finde an diesem Abend ein paar Personen, die sich freuen, mich/uns zu sehen, und merke zunehmend, dass ich in den Gesprächen, die ich mit diesen Menschen geführt habe, außergewöhnlich leise war, wie immer sehr entgegenkommend und hin und wieder auch einen Spruch auf den Lippen hatte, aber eben leise.
Und so fuhr ich auch nach Hause – mit einem kleinen Zwischenstopp, ganz vielen Fragen auf der Stirn, unglaublich vielen Gedanken, Träumen, Ideen, zwischenmenschlichen und diesen Wünschen, einfach auch nur mal leise sein zu dürfen.
Wisst ihr, vielleicht denken sich jetzt einige von euch, was schreibt der Ochse da für einen Bullshit, ist er mal wieder melancholisch, und andere wiederum verstehen mich bestimmt ein wenig, und noch andere werden mir auch gedanklich noch folgen können, wenn ich mir die Frage stelle, was tun wohl die Menschen auf der Straße, die keine Ruhe finden, die nicht schlafen, die niemanden haben (außer sie begegnen eben dieser Dame), denen sich so wie auch ich mir wünsche, still zu sein. – ab und zu –
Wir alle dürfen das, wir alle können das, wir alle machen es einfach, im Gegensatz zu denen, für die „Stille“ ein Fremdwort ist, für die, für die Traurigkeit, Schwäche bedeutet und für die, die die Musik nicht aufdrehen können, um ihren Gedanken einfach mal einen Spaziergang zu gönnen.
Und letztendlich ist es die Stille, die in uns allen steckt, und ich bin mir ein ganz kleines bisschen sicher – sie ist das Balsam für die Seele, sie ist das Pflaster für all die Wunden und Narben, die entstanden sind, und sie ist das Antibiotikum für den Kopf und den Geist, der uns am Leben hält. Und ich wünsche es allen Menschen, sich diese Stille nehmen zu dürfen, sie zu genießen, sie zu leben und zu lieben, und ich bin in Gedanken bei all denen, die vor lauter Traurigkeit, Einsamkeit, Obdachlosigkeit u.v.m. nicht einschätzen können, wie wertvoll Stille sein kann.
Still sein…