Zufall oder Schicksal?

Geht es ihm gut?

Diese Frage stelle ich mir jedes Mal, wenn wir zu dem Obdachlosen meines Herzens fahren. Ich nenne ihn jetzt einfach Rudi – wir nennen keine echten Namen, posten keine Fotos von obdachlosen Menschen und ihren Schlafplätzen. Zu groß ist die Gefahr, dass diejenigen, für die diese Menschen Abschaum sind, sie erkennen und einfach aus Spaß verletzen oder sogar töten.

Heute, 08.05.2024, starten wir – Holger, Susanne S. und ich, Karin – gegen 22:15 unsere Tour in die Nacht. Es ist noch einiges los auf den Straßen – morgen ist Feiertag, da ist am Abend davor natürlich überall Party angesagt. Gerade an solchen Tagen ist es sinnvoll, erst spät eine Tour zu fahren, obdachlose Menschen meiden den Trubel, bleiben – genau – lieber unsichtbar.

Als wir den Aufenthaltsort von Rudi erreichen, hält Holger an, lässt die Scheibe des Kangoos runter und ruft seinen Namen. Keine Antwort. Holger ruft erneut… lauter… nichts. Ist das jetzt wirklich DER Moment, vor dem ich so große Angst habe? Dass es Rudi so schlecht geht, dass er nicht antworten kann? Dass er nicht mehr lebt? Erneutes Rufen – noch lauter. Nichts. Der Kloß in meinem Hals wird dicker. Er reagiert sonst immer sofort. Es kann doch einfach nicht sein, dass… Beim 4. Rufen hören wir ein leises „Ja?“ – Jetzt könnte ich glatt losheulen – aber vor Erleichterung. Holger registriert natürlich meine Reaktion – allmählich kennt er mich ja lange genug: „Der ist nicht tot, der lebt noch ganz lange!“ Ich bin so dankbar, dass wir von Unsichtbar dazu beitragen dürfen, ihn nicht nur durch diese Nacht, sondern (hoffentlich) noch durch ganz viele Nächte zu bringen.

Die Weiterfahrt führt uns zu einem sehr jungen obdachlosen Mann, der sofort winkt, als er den Unsichtbar-Kangoo entdeckt. Holger kennt ihn, stoppt, vertraute Begrüßung. Der junge Mann hat klare Wünsche, was er nicht benötigt, lehnt er auf unsere Anfrage ab. Er ist wortgewandt, witzig, intelligent (sofern man das in der kurzen Zeit beurteilen kann). Warum lebt er auf der Straße? Seine Geschichte ist nicht bekannt. Wenn er irgendwann reden möchte – wir sind da und wir hören zu.

Weiter geht’s durch die Nacht. Die Straßen werden leerer, allmählich sind die Feiernden zuhause angekommen. Wir sind weiter auf der Suche nach denjenigen, die kein Zuhause haben.

Landstraße, Höchstgeschwindigkeit 70 km/h. Holger fährt langsamer, es gibt viel Grün, Rehe sind unterwegs. Auf der Gegenfahrbahn sehen wir einen Mann, schwarz gekleidet, mit reflektierenden Streifen an der Hose – dadurch haben wir ihn überhaupt bemerkt. Er winkt mit beiden Armen, torkelt – offenbar betrunken. Oder nicht? Wir sind uns einig – Holger wendet. Der junge Mann kommt an den Wagen: „Könnte ihr mich nach Hause bringen? Ich wohne gleich da oben!“ – Leider nein, geht schon aus versicherungstechnischen Gründen nicht. Holger sagt, dass das mit dem Alkohol jetzt nicht so cool ist, der junge Mann gibt ihm Recht. Es scheint so, dass er ein Problem damit hat und das auch weiß – aber er ist kein Fall für uns, er wohnt noch bei seinen Eltern. Holger bietet ihm einen Kaffee an. Überraschte Frage „Krieg‘ ich den einfach so?“ – Ja, kriegst du. Er bedankt sich mehrfach, wir würden ihn zwar nicht nach Hause bringen, was er auch verstehe, aber wir hätten ja immerhin angehalten. Haben wir. Auch in solchen Fällen fühlen wir uns zuständig.

Holger wendet. Ein entgegenkommendes Fahrzeug fährt mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit. Wenn wir nicht gewendet hätten, wenn der junge Mann jetzt auf die Fahrbahn getreten wäre… Da sind wir wieder beim dem Thema von neulich: Zufall oder Schicksal?
Es geht Richtung Hagen Innenstadt und wir dürfen noch etliche obdachlose Menschen mit dem Nötigsten für die Nacht versorgen, denn: „die Nacht ist noch lang“, wie einer der Herren bemerkt, der eine 2. Terrine erhält. Ein uns gut bekannter Herr muss reden: Über seinen langen Krankenhausaufenthalt – und überhaupt.

Es war wieder eine gute Tour. Für mich persönlich ganz besonders: Ihr wisst, was ich meine…
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Das Ehrenamt bei UNSICHTBAR e. V. besteht nicht ausschließlich aus der Arbeit auf der Straße. Bring dich zum Beispiel in der Fahrzeugpflege mit ein, sortiere, packe und waschen und reinige regelmäßig unsere Fahrzeuge, denn auch das ist eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe.
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