Hattet ihr eine glückliche Kindheit?

Hattet ihr eine glückliche Kindheit?

Ich hatte sie. Und je öfter ich die Lebensgeschichten – oder auch nur Auszüge – von obdachlosen oder hilfsbedürftigen Menschen erfahre, desto mehr danke ich meinen Eltern. Bedingungslose Liebe und Unterstützung sind selbstverständlich – so dachte ich lange Zeit. Später wurde mir klar, dass das für andere absolut nicht zutrifft. Bei wie vielen der Menschen, die auf der Straße leben, wurden die Grundsteine für dieses Leben bereits in der Kindheit gelegt?

Heute – 10.05.2024 Nachttour mit Holger – haben wir einen Teil einer Lebensgeschichte erfahren, der mich wieder total berührt hat. Holger hat einen Anruf erhalten: Eine junge Frau hat keinen Cent mehr für etwas zu essen, das Wochenende steht vor der Tür. Wir holen 2 Essensgutscheine für einen Nachbarort von Bea und verabreden uns mit der jungen Frau am Bahnhof – in jeder Stadt ein prägnanter Punkt. Da steht sie… sieht jünger aus als sie ist, verlegen, hilflos. Ich würde euch gerne ihre Geschichte erzählen, um euch für Menschen wie diese Frau zu sensibilisieren – aber die Privatsphäre der Menschen, denen wir helfen, ist heilig. Nur so viel: Bei dieser Frau wurde definitiv der Grundstein für ihre aktuelle Situation bereits in der Kindheit gelegt. Wir reden lange mit ihr, versuchen ihr aufzuzeigen, wie sie was ändern kann. Wir sind keine Therapeuten, dürfen nicht beraten – aber wir können ihr den Weg nennen, den sie über die Ämter gehen muss und wir können Mut machen. SIE muss die Initiative ergreifen, anders funktioniert es nicht. SIE muss sagen, ich kümmere mich… um MICH. Ich sage ihr zum Abschied, dass SIE jetzt das Wichtigste in ihrem Leben ist und dass ich an sie glaube und dass sie es schafft. Ich glaube es – vielleicht auch nur, weil ich es glauben will. In ihren Augen sehe ich, dass meine Aussage ihr Sicherheit gibt – hoffentlich für lange…

Auf der Fahrt Richtung Hagen sprechen wir natürlich über diese Begegnung und das Schicksal der jungen Frau. Holger berichtet von seinen Erfahrungen in ähnlichen Fällen. Ich bin seit Februar bei Unsichtbar, dies ist meine 17. Tour. Dagegen stehen über 9 Jahre Erfahrung von Holger. Ich werde noch vieles erfahren, vieles lernen, vieles entscheiden – und ganz oft mitleiden…

In Hagen treffen wir auf jemanden, der in einem Hauseingang sitzt. Holger wendet den Kangoo, fragt, ob wir helfen können. Abwehrende Handbewegung. In so einem Fall sollte man nicht locker lassen, manchmal sind es Menschen, die nicht eingestehen wollen, dass sie Hilfe brauchen, die sich schämen. Auch jetzt: Holger insistiert und ein Kaffee wird angenommen. Der Herr ist obdachlos, war zu spät an seiner Unterkunft, daher muss er die Nacht auf der Straße verbringen. Holger drängt ihm fast eine Tafel Schokolade auf – mehr will er definitiv nicht. – Ich habe ja bereits geschrieben, dass es obdachlose Menschen gibt, die fordernd sind und die auch unangenehm werden. Mir tut es jedes Mal weh, wenn wir auf Menschen treffen, die aus Scham Hilfe ablehnen. Wir lassen uns dann nicht einfach abfertigen, sondern haken nach – und dann können wir oft doch noch durch die Nacht helfen.

Weiter geht’s durch die Nacht und durch Hagen. Auch jetzt noch ist viel los – es ist warm, es ist Freitag – mittlerweile eher Samstag – Party-Stimmung. Wir halten bei einem Mann, der in einem der Geschäftseingänge sitzt. Er erhält eine Terrine – bei weiteren Fragen reagiert er nicht. Kurz noch auf einen Kaffee – aber den nimmt er nicht an. Er lebt in einer ganz eigenen Welt – wie auch immer er dahin gekommen ist. Holger stellt den Kaffee neben einen Becher, der vor ihm stand, als wir ihn angetroffen hatten. Und wieder die Frage: Was ist mit ihm los, was hat ihn auf die Straße gebracht? Nimmt er was und wenn ja, was, um so zu sein? Ich glaube, diese Fragen werde ich nie aufhören zu stellen, solange ich bei Unsichtbar bin.

Wir beschließen, noch einen Treffpunkt anzufahren und dann Feierabend zu machen. Die 3er-WG ist vor Ort, wir werden freudig und winkend begrüßt. Holger dreht 2 Ehrenrunden – er muss erst sein Eis aufessen. Die Drei sind erst verwirrt, dann lachen sie – man kennt sich, Frotzeleien und Spaß sind vertraut. Es tut einfach gut zu sehen, wie wohl sie sich fühlen, wenn man mit ihnen rumalbert, sie strahlen mich an: „Spaß!“. Vielleicht geben wir ihnen damit ein Gefühl von Normalität. Die üblichen Ausgaben an Terrinen und Getränken, der übliche Dank, ich höre oft: „Mama“. Bei meiner ersten Tour mit Susanne und Steffi sagte ich leicht pikiert: „Na toll – ich bin die Mama. Immer noch besser als Oma“. Steffi klärte mich auf: Die Bezeichnung „Mama“ ist ein Ausdruck von Ehrerbietung. Na dann… bin ich doch gerne die Mama!!
Wir fahren Richtung Lager, wieder war eine Nachttour sinnvoll, wir können beruhigt Feierabend machen. Holger bleibt wie immer „auf Sendung“ für Notrufe – ich werde noch einige Gedanken für den Bericht niederschreiben, das ist eine erfolgreiche Maßnahme, runterzukommen.

Und ich werde heute meine Mama anrufen…

===================================================================================

EHRENAMT BEI UNSICHTBAR e. V.
Das Ehrenamt bei UNSICHTBAR e. V. besteht nicht ausschließlich aus der Arbeit auf der Straße. Bring dich zum Beispiel in der Fahrzeugpflege mit ein, sortiere, packe und waschen und reinige regelmäßig unsere Fahrzeuge, denn auch das ist eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe.
Werde Teil von etwas Großem – werde ein Teil von UNSICHTBAR e. V.“