Ausgehungert

Gestern war wieder eines unserer Straßenteams auf Tour und was sie dort erlebt haben und sobald auch nicht vergessen werden, schreibt Euch Sabine Wiegand-Steffan, hier in diesem Bericht.
Es bestätigt sich immer wieder dass unser einzigartiges Konzept, dann zu diesen Menschen zu fahren, wenn alle anderen bereits schlafen, sich immer und immer wieder bestätigt und wir eben in vielen dieser Nächte, da helfen können, wo dringend Hilfe benötigt wird.
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Ausgehungert
Gestern Nacht war Olaf, Kathrin und ich unterwegs.
Es sollte eine Tour durch Wuppertal werden.
Die beiden holten mich ab und wir fuhren erstmal zu einem uns bekannten netten Herrn und schauten, ob wir etwas für ihn tun konnten.
Er war gut versorgt und so unterhielten wir uns einfach noch eine Zeitlang. Gerade auch diese Gespräche, die so ausfallen wie die Situation und die Momente es hergeben, sind sehr wichtig.
Oftmals entwickeln sich aus einer einfachen Plauderei heraus tiefsinnige Gespräche, die auch uns so schnell nicht loslassen und sehr nachdenklich stimmen.
Danach fuhren wir weiter und schauten auf dem Weg natürlich auch, ob wir noch auf andere bedürftige Menschen treffen, denen wir vielleicht noch etwas Gutes tun konnten. Vielleicht auch einfach nur dieses Gefühl vermitteln, da ist jemand, der nach mir schaut, dem ich nicht egal bin, der mich sieht.
Aber die Plätze waren leer und so fuhren wir erstmal die uns bekannten Wohnzimmer an und konnten mit vielen Terrinen, heißem Milchreis und Puddings den Hunger stillen und für etwas Warmes im Bauch sorgen.
Da ahnten wir noch nicht, dass das Wort Hunger in dieser Nacht noch zu toppen war und das Wort aushungert eine wirkliche Bedeutung bekam, die wir nie wieder vergessen werden.
Wir gingen danach einem Hinweis nach, wo ein Herr sein Schlafzimmer haben sollte und nach kurzem suchen, was wir ja aber gewohnt sind, fanden wir ihn und seinem “ Reich“.
Wir konnten erstmal nur unter einem Haufen Decken eine Bewegung und leises Husten ausmachen. Nach mehrmaliger freundlicher Ansprache, erschien dann ein Kopf aus dem Deckenwirrwarr und wir stellten uns vor.
Auf die Frage, ob wir ihm etwas zu essen anbieten können, bekam er ganz große Augen und sagte sofort ja.
Bitte ja, ich möchte so gerne etwas essen.
Auf die Frage was, antwortete er, das wäre egal, Hauptsache essen. Inzwischen saß der Herr und wir konnten seinen nackten und ausgemergelten Oberkörper sehen und bereiteten ihm Terrinen und auch Milchreis zu und versorgten ihn mit reichlich Essen.
Kaum hatte er die Speisen vor sich stehen, fing er an zu essen und wir machten ihn darauf aufmerksam, dass die Terrinen erst noch etwas durchziehen müssen und dass er aufpassen soll, es wäre wirklich sehr heiß. Aber das war in dem Moment, wo das Essen dort stand, nebensächlich. Er konnte sein Glück kaum fassen, dass da nun etwas Warmes zu essen für ihn stand.
Wir waren einfach zutiefst betroffen.
Dieser Mensch war ausgehungert. So etwas hatten wir vorher noch nicht erlebt. Es hatte was Verstörendes. Offenbar hatte er tagelang nichts gegessen.
Kleidung hätte er, sagte er und es wäre ihm warm unter seinen Decken, eingemummelt im Schlafsack. Auch wenn für uns nicht vorstellbar, dort mit nacktem Oberkörper in der Kälte zu sitzen, müssen wir auch das akzeptieren und respektieren.
Allein bei dem Anblick wurde uns schon in unseren dicken Jacken kalt.
Auf die Frage, was wir sonst noch für ihn tun könnten, antwortete er zaghaft, ob wir vielleicht etwas Creme für ihn hätten. Die Haut seines Gesichts würde so schmerzen und fürchterlich spannen, durch die kalten Temperaturen. Da wir auch Pflegeartikel jeglicher Art mit uns führen, suchten wir rasch eine Fettcreme für das Gesicht und auch etwas für seine kaputten Hände. Kaum hatten wir ihm die Sachen gegeben, cremte er sich schon glücklich das Gesicht ein.
Wir standen bei ihm, gerührt, erschüttert und auch glücklich, ihn gefunden zu haben und ihm helfen zu können. Wieder einmal zu sehen, wie wichtig es ist, dass UNISICHTBAR e.V. – Nacht für Nacht das ganze Jahr über unterwegs ist.
Wir haben diesem Herrn das Versprechen gegeben, dass wir nun immer nach ihm schauen auf unseren Touren und er freute sich riesig und bedankte sich unaufhörlich.
Sehr nachdenklich setzten wir unsere Fahrt fort und konnten auch an weiteren Orten noch Warmes und auch Schlafsäcke und Isomatten verteilen, um die inzwischen sehr kalte Nacht erträglicher zu machen.
Als wir dann alle Bekannten gut versorgt wussten, brachten mich Olaf und Kathrin nach Hause. Der ausgehungerte Herr schwirrte uns weiter im Kopf, hatte uns emotional wirklich mitgenommen und so war das auch Thema auf der Rückfahrt und auch das ist sehr wichtig, um das Erlebte zu verarbeiten und damit gut umgehen zu können.
Das Wort ausgehungert hat nun eine wirkliche Bedeutung für uns.