Besondere Eindrücke

Schon oft haben wir, nein ich, versucht die Texte kurz zu halten aber das geht einfach nicht. Wenn wir Euch mitteilen wollen, was wir erlebt haben, dann kommt eben viel Text zustand. Vier oder fünf Sätze um kurz und knapp etwas zu beschreiben, reichen uns nicht, um Euch mit in unsere Gedanken und dem was wir erlebt haben, mitzunehmen.
Hier nun die Gedanken und das was sie erlebt haben, von Kathrin, die gersten mit Sabine und Alev, als zweites Team unterwegs waren.

Besondere Eindrücke
Gestern war ich mit Sabine und Alev in Bochum unterwegs. Für mich kristallisiert sich auf so einer Tour meist eine besondere Frage oder ein besonderer Eindruck als eine Art „Motto“ der Tour heraus. Das kann etwas sein, das wir besonders intensiv im Auto besprochen haben oder etwas, das wir direkt mit unseren Schützlingen erlebt haben. Gestern war es so eine Frage im Auto, die uns auf der Rückfahrt zum Lager besonders beschäftigt hat: Wie kommt man eigentlich in die Situation der Obdachlosigkeit und wieso kommen so viele Menschen da nicht wieder raus.
Es würde ein Roman werden, wenn ich hier unsere gesamten Ideen wiedergebe, aber ich möchte zu jeder Frage kurz auf einen Aspekt eingehen.
Viele unserer Schützlinge haben ein Problem mit Substanzmissbrauch – Alkohol oder Drogen. Hinzu kommen oft Einschränkungen bei der psychischen Gesundheit sowie das Auftreten einer besonders schwierigen Situation: der Tod eines lieben Menschen, der einen total aus der Bahn wirft oder etwa der Verlust der Arbeit. Ich denke, das können alle Menschen nachvollziehen. Jedoch war uns das als Antwort zu „einfach“:
Denn es gibt viele Alkoholiker, die eine Wohnung haben. Ich würde sogar sagen die meisten. Viele davon leben ein geregeltes Leben. Und fast alle Leute, die ihre Arbeit verlieren, beantragen Sozialleistungen, wenn es nicht weitergeht (im Idealfall, BIS es wieder weitergeht. Und auch andere Drogen werden vorrangig von Menschen konsumiert, die eine eigene Wohnung haben. All das führt nur EINIGE Menschen auf die Straße. Also warum trifft es einige und andere nicht?
Die Antwort, die wir in unserem Dreierteam gefunden haben, berührt: Den Menschen, die auf der Straße landen, fehlt oftmals das Sicherheitsnetz aus Familie und Freunden. Jeder, der im Auto saß, kennt all diese Probleme auch. Verlust der Arbeit, Krankheit, finanzielle Nöte. Aber das, was jeder von uns hatte, waren Freunde und Familie, die uns unterstützt haben. Ein Partner oder Freund, der für eine Wohnung gebürgt hat. Vitamin B, um überhaupt erst eine Wohnung zu finden. Unterstützung im Haushalt, wenn man selbst vollkommen überfordert war. Finanzielle Unterstützung, wenn das Geld drohte, nicht mehr für die Miete zu reichen. Und eine Umarmung. Ein „Das schaffen wir schon“. Ein „Ich glaub an Dich“. Ein „Ich bin hier, du musst das nicht alleine schaffen“.
Und so ist uns allen nochmal klar geworden, dass wir in vielen Fällen gar nicht mit anderen Problemen im Leben konfrontiert wurden als die Leute, um die wir uns kümmern. Wir hatten einfach nur Glück, dass wir ein Sicherheitsnetz hatten, das und aufgefangen hat. Sonst hätten auch wir an so mancher Herausforderung an unserem Leben scheitern können.
Die andere Frage, zu der ich gerne unsere Ideen teilen möchte, ist die, warum viele Menschen den Absprung aus dem Leben auf der Straße nicht schaffen. Denn man hört es immer wieder: Es gebe doch wohl genug Hilfe. In Deutschland müsse keiner auf der Straße leben. Die wollen doch alle gar nicht. Und auch hier möchte ich auf den Aspekt eingehen, der uns am meisten berührt hat. Nämlich die schieren Ausmaße dieser Herausforderung.
Es ist nämlich eine absolute Mammutaufgabe, von der Straße wegzukommen. Unzählige kleine Schritte. „Aber man muss doch nur zum Amt“. Klar. Zwischen einem Termin beim Amt stehen aber sofort erstmal zwei Dinge: Man muss einen Termin ausmachen. Aber wie? Ohne Telefon? Ohne die Möglichkeit nachzugucken, wo man die Nummer herbekommt. Welches Amt ist eigentlich zuständig? Muss ich mich da online registrieren?
Und sollte man diese Hürde überwinden – wie komme ich dann ins Gebäude? Denn viele Menschen auf der Straße haben keinen Personalausweis. Da sagt der Sicherheitsdienst „Gibt’s nicht“. Und selbst wenn man bis zu einem Sachbearbeiter vordringt – ohne Personalausweis, werden keine Leistungen bewilligt.
Also stehen wir wieder auf Anfang. Wüsstet Ihr, was man tun muss, wenn man keinen Personalausweis hat? Wir wussten es nämlich spontan nicht. Wir haben nur gefühlt, dass uns das zu diesem Zeitpunkt schon jede Menge Energie geraubt hätte, die wir aber in einer warmen Wohnung mit unseren Familien oder Haustieren wieder aufladen können.
Und wenn man Geld beantragt hat, weil man es geschafft hat, einen Termin bei einer der Organisationen zu bekommen, die obdachlosen Menschen helfen, und man bekommt die Zusage für die Übernahme einer Wohnung – woher soll man diese Wohnung nehmen? Es ist ein Märchen, dass es für jeden Menschen eine Wohnung gibt. Ganz im Gegenteil. Wohnraum ist knapp. Das weiß jedes doppelverdienende Paar. Und die Städte haben nicht mal eben 40 Wohnungen für Menschen auf der Straße. Die müssen genauso Wohnungen suchen wie wir. Einen guten Eindruck machen bei einer Besichtigung, wenn es denn so weit kommt? Woher saubere Kleidung nehmen, wo duschen? Wie dorthin kommen? Und welcher Vermieter gibt einem Menschen ohne bisherigen Wohnsitz, der vielleicht noch eine Alkoholfahne hat, eine Chance? Und wie ist das eigentlich mit der freiwilligen Selbstauskunft der Schufa?
Unsere Schützlinge wissen all das. Ihnen ist vollkommen klar, was alles auf sie zukommt, wenn sie sich bemühen wollen, von der Straße wegzukommen. Das ist eine bürokratische Herkulesaufgabe. Wer von uns kann ehrlich behaupten, dass dieser ganze Aufwand, all diese unzähligen Hürden, selbst einem gesunden Menschen, der mit beiden Beinen in einem geregelten Leben steht, nicht die Ehrfurcht in die Knochen treibt?!
Wie soll ein Mensch auf der Straße, ohne familiäres Sicherheitsnetz, ohne Vitamin B und vielleicht noch getrieben von seiner Sucht und den Symptomen einer psychischen Erkrankung das alles schaffen? Es ist vielleicht nicht unmöglich in der Theorie. Aber in der Praxis ist es umständlich, langwierig, überfordernd und schlicht und ergreifend furchteinflößend – und deshalb für viele Menschen, die fast ihre ganze Energie Tag für Tag fürs bloße Überleben aufbrauchen, einfach zu viel.