Versichert. Verurteilt. Verloren?

Versichert. Verurteilt. Verloren?

Ein Text über Denkfehler, Vorurteile – und den Mut, ehrlich zu sein.

Es war nur ein Gespräch.
Ein Mensch, der draußen lebt, und ich – im Austausch. Kein Interview, keine Kamera, kein großes Tamtam. Einfach reden.

Es ging um das Leben auf der Straße.
Darum, wie man an Geld kommt.
Und irgendwann fiel dieser Satz:
„Wenn wir nichts haben, können wir ruhig mal was klauen. Die Läden sind doch eh versichert.“

Ich habe geschwiegen.
Kurz.
Nicht, weil ich keine Worte hatte – sondern weil ich sie erstmal sortieren musste.

Denn was sich da so logisch anhörte, war nichts anderes als ein Denkfehler mit Anlauf.

Klar, eine Versicherung kann Geld ersetzen.
Aber sie ersetzt keine Angst.
Kein Vertrauen. Kein Sicherheitsgefühl. Kein Herzklopfen in der Nacht, wenn du als Verkäuferin alleine den Laden zumachst und dir jedes Geräusch wie ein Überfall vorkommt.

Versicherungen sind keine Schutzengel.
Sie sind auch keine moralische Entschuldigung.
Sie sorgen dafür, dass ein Schaden nicht komplett ruinös ist – aber sie machen ihn nicht ungeschehen.

Und der Glaube, dass „eh alles bezahlt wird“, wenn man jemanden bestiehlt oder überfällt, ist genau das: ein Glaube.
Und zwar einer, der gewaltig in die Irre führt.

Denn am Ende zahlen nicht „die Großen“.
Es zahlen:
– Die Menschen, die im Laden arbeiten und jeden Cent umdrehen.
– Die Betreiber, die bei der nächsten Beitragserhöhung die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.
– Die Kunden, die die Preissteigerung mittragen müssen.
– Und: wir alle. Gemeinsam. Mit jedem Einkauf. Mit jeder neuen Angst. Mit jedem Stück Misstrauen mehr.

Aber damit war das Gespräch nicht zu Ende.
Es ging weiter.
Ein anderer Punkt kam auf.

Ein Mann im Anzug sei vorbeigegangen, habe nichts gespendet.
„So ein Schnösel“, sagte mein Gegenüber. „Der hat doch mehr als genug. Und gibt nix.“

Ich musste kurz schlucken.
Nicht, weil ich den Mann im Anzug kenne.
Sondern, weil da ein Gedanke ausgesprochen wurde, den ich auch aus der anderen Richtung kenne:

Diese Vorverurteilung auf Sicht.
Diese Reflex-Reaktion: Anzug gleich Geld. Geld gleich Pflicht zu helfen. Keine Hilfe gleich unsympathisch.
Zack. Stempel drauf. Fall erledigt.

Dabei wissen wir gar nichts über diesen Mann.
Vielleicht hatte er einen miesen Tag.
Vielleicht hilft er regelmäßig – nur eben nicht auf der Straße.
Vielleicht war er emotional überfordert und wusste einfach nicht, wie man in so einem Moment „richtig“ reagiert.
Oder – vielleicht war er selbst gerade dabei, alles zu verlieren. Auch das gibt’s.

Und genau hier treffen sich zwei Welten, die sich gegenseitig kaum noch zuhören:
Die einen sagen: „Diese Obdachlosen – faul, selbst schuld, betrunken.“
Die anderen sagen: „Diese Reichen – kalt, abgehoben, herzlos.“

Und beide liegen oft daneben.
Weil sie sich an der Oberfläche aufhalten.
Weil sie einander nur anschauen, aber nicht hinsehen.
Weil sie einander verurteilen, bevor überhaupt ein Wort gefallen ist.

Wir leben in einer Gesellschaft, die voller Vorurteile ist – in beide Richtungen.

Und vielleicht müssen wir endlich begreifen:
Vorurteile sind kein Privileg der Reichen. Und auch nicht der Mächtigen. Jeder Mensch kann vorurteilen. Auch du. Auch ich.

Und das bringt mich zu einem anderen Punkt.
Etwas, das mich genauso beschäftigt.

Mir hat letztens jemand etwas über einen Bekannten erzählt.
Etwas Persönliches.
Nicht direkt schlimm – aber so hintenrum.
So: „Sag’s ihm aber nicht, ich wollt’s nur mal loswerden…“

Und ich dachte mir: Nein. Genau so fängt das an.

Und wer mich kennt, weiß: Ich lasse sowas nicht auf mir sitzen.
Wenn du über jemanden redest, dann rechne damit, dass ich es ihm sage.

Nicht aus Boshaftigkeit. Sondern aus Fairness.
Weil ich nicht will, dass über mich geredet wird, wenn ich nicht im Raum bin – also tue ich das auch keinem anderen an.

Wenn ich ein Problem mit jemandem habe, dann sag ich es ihm. Direkt.
Nicht laut. Nicht fies. Aber ehrlich.
Denn das ist das Minimum an Respekt, das jeder Mensch verdient.

Was ich damit sagen will?
Wir verlieren uns immer mehr in Rollen, in Schubladen, in Etiketten.

Die Reichen gegen die Armen.
Die Obdachlosen gegen die Anzugträger.
Die Ehrenamtlichen gegen die „Nichtstuenden“.
Die, die helfen – und die, die angeblich nie was zurückgeben.

Und das alles unterlegt mit einem dicken Guss aus Halbwissen, Missverständnissen und Mutmaßungen.

Aber was wäre, wenn wir mal wieder anfangen würden, miteinander zu reden?
Wenn wir nicht alles glauben würden, was wir hören – sondern nachfragen?
Wenn wir uns trauen würden zu sagen: „Hey, das ist mir zu Ohren gekommen – stimmt das?“
Wenn wir sagen würden: „Ich hab dich falsch eingeschätzt – tut mir leid.“
Wenn wir – ganz verrückt – Menschen nicht nach ihrem Äußeren, sondern nach ihrem Verhalten beurteilen würden?

Was wäre, wenn wir aufhören, Gerechtigkeit mit Rache zu verwechseln?
Und Verantwortung mit Schuld?
Was wäre, wenn wir einfach mal wieder menschlich wären?

Nicht perfekt.
Nicht fehlerfrei.
Aber ehrlich. Und mutig. Und bereit, zuzuhören.

Denn das ist es, was wirklich fehlt.
Nicht noch mehr Meinungen.
Nicht noch mehr Urteile.
Sondern echte Begegnung.