Die Welt dreht sich Tag ein und Tag aus

Die Welt dreht sich Tag ein und Tag aus – ohne nur mit der Schulter zucken, wenn sie dann eine hätte, läuft sie wie ein Uhrwerk, immer und immer wieder.
 
Doch für viele Menschen steht die Welt still, gerade jetzt in Zeiten von Corona, scheint sie sich für viele gar nicht mehr zu bewegen.
Auf den Straßen sieht man nicht die Massen, die sonst durch die Gegend schlendern und ihre sozialen Kontakte pflegen, sich mit anderen treffen, sich umarmen und ihr Leben genießen.
 
Diese Welt hat für viele die Bremse gezogen, einige von ihnen haben sogar die Notbremse gezogen und dann – dann kommt erstmal lange nichts mehr, wenn überhaupt noch was kommt.
Alle Menschen reden jeden Tag über dieses eine Thema, andere können es überhaupt nicht mehr hören und andere arbeiten direkt dort, wo es jeden Tag, oftmals bitter zu Ende geht, das Leben, welches sich doch jeder gewünscht hätte, dass es sich noch sehr lange drehen würde.
 
Meine heutige Begleitung waren zwei Personen, eine davon war Son Ja – Intensivkrankenschwester auf einer Covid19 Station – eine Person, die hautnah an einem Ort arbeitet, der für viele Menschen die letzte Station ist.
 
Viele die dort liegen hätten nie gedacht, dass sie einmal dort liegen werden und viele von ihnen hätten auch nicht gedacht, dass wenn sie dort ankommen, dass es kein entkommen mehr gibt und sie nie wieder zu denen zurückkehren, die für sie einmal sehr wichtig waren.
 
Ihren Familien, Freunden, Bekannten und Kollegen. Alles Menschen, die genauso wie eben diese Personen, die dort auf Grund ihres schlimmen Krankheitsbildes sterben werden, vielleicht noch mehr auf lange Sicht leiden werden als die Person, deren Weg an diesem Ort ein Ende findet.
 
Sie beschreibt ihren Alltag als nicht vorstellbar, speziell bei denen, wo gestern noch Hoffnung bestand und die Angehörigen sich Hoffnung machten, bei denen – denen die Kraft dann doch verlies und sie in der Nacht darauf starben und sich nun woanders befinden aber auch ist sie wütend über die, die meinen, dass wenn es ihnen gut geht, sie sich keine Gedanken über die machen, die um sie herumstehen.
 
Wenn ich dürfte, sagte sie – würde ich jeden einzelnen von diesen Menschen nur mal einen Tag mit auf die Intensivstation der Covid19 Patienten nehmen, und sie nur mal eine Nachtschicht miterleben lassen und sie dann mit den Dingen, die sie dort erleben mussten, alleine nach Hause schicken und über all das was sie vorher nicht sehen wollten, leise und alleine nachdenken lassen.
 
Selbst für die, die dort arbeiten, die – die sonst gerade auf der Intensivstation schon vieles gesehen haben, selbst für diese Menschen ist die tägliche Konfrontation mit diesen vielen Todesfällen, nicht mal eben so weggesteckt.
 
Viele sehen gar nicht was dort passiert, weil sie es nicht sehen wollen und viele sehen nur Wände von außen und würden gerne dort rein wollen, doch dürfen sie es nicht, obwohl sie sich gerne verabschieden würden, von denen – die sie lieben und immer lieben werden.
 
Und was kommt danach?
 
Traurigkeit, Fassungslosigkeit, pures Entsetzen, Depressionen – bis hin zu massiven psychischen Schäden und auch bis hin zu Gedanken, weil vielleicht der Partner oder auch das Kind plötzlich nicht wiederkommen wird, Gedanken darüber sich etwas anzutun, um die – die verloren gegangen sind, dann doch noch zu begleiten.
Menschen vereinsamen immer mehr und was sonst noch so hinter verschlossenen Türen passiert, möchte man sich nicht ausmalen.
 
Als es noch Zeiten gab, in denen man einfach mal in die Kneipe um die Ecke gehen konnte, um runterzukommen, weil es in den eigenen vier Wänden nicht mehr auszuhalten war, konnte man vielen Dingen entfliehen – Übergriffe – häusliche Gewalt und und und aber diese Auswege sind und werden vielleicht immer weniger und weniger.
 
Genau wie auf der Straße auch, werden diese Menschen nicht gesehen – sie bleiben irgendwann hilflos und allein oder auch nicht allein aber dann in einem mit Tränen versenkten Meer an Leben, weil sie nirgendswo hin können, sich vielleicht auch nicht trauen, sich irgendeine Hilfe zu suchen – die ihnen zeigt das es Auswege gibt, weil ihnen zu lange eingeredet wurde, dass sie eh nichts wert sind und sie niemand ernst nimmt.
 
Oder der letzte Weg ist die Flucht – raus aus dem Ganzen – die Flucht in den Alkohol, in Drogenexzesse – einfach nur um seinen Gedanken oder Verlusten entfliehen zu können, einfach nicht mehr zurück in die Hölle, die irgendwann ein zuhause war – einfach nur weg.
 
Und niemand wird sie fragen, warum sie diesen Weg gegangen sind, weil sich jeder der Nächste ist und nicht nur einmal über seine Schulter hinaus zu blicken und nachzufragen – warum!?
Viele von ihnen machen dann verrückte Dinge, die sie ihr Leben kosten. Andere verkriechen sich in irgendwelche Löcher, aus denen sie niemals mehr rauskommen und andere wählen den Weg auf die Straße, um dort dann ihren Gedanken zu entfliehen.
 
Aber nicht nur Sonja, die täglich mit Menschen arbeitet und ihnen hilft, wo sie kann – die diese Menschen begleitet und die – die bei ihnen ist, wenn sie sterben – auch Thorsten Biermann, der mich heute ebenfalls begleitet hatte, macht sich über jeden einzelnen Menschen Gedanken, gerade über die – denen wir auf der Straße begegnen.
 
Da ist die Person, der wir seid Tagen nicht begegnet sind und da sind dann auch die, die wir sonst immer angetroffen haben, die aber plötzlich nicht mehr da sind und die – die vielleicht auch niemals wieder kommen, weil das Risiko sich auf Straße zu leben, unter diesen Umständen etwas schlimmes zu holen, sei es nun Corona oder auch andere Krankheiten, sowie auch Gewalttaten, von denen sich auch diese Menschen nicht mehr erholen werden, weil sie vielleicht sogar auch dadurch Wunden bekommen, die ärztlich gar nicht behandelt werden – diese Gedanken nehmen wir nicht nur meine heutigen Begleiter und ich mit – auch das gesamte Team, jeder von ihnen, jeden Abend, wenn sie nach Hause fahren, wenn sie eine Tour fuhren, begleiten jeden von ihnen, diese Gedanken.
 
Aber das gehört dazu, dass macht uns zu den Menschen, die wir sind, die sich Sorgen machen, die mit Empathie diesen Menschen gegenüberstehen und sie sehen – das gehört zu uns und das gehört zu UNSICHTBAR e.V.
 
Wir kommen wieder, wir schauen nach, ob alles ok ist, aber treffen wir jeden einzelnen dann auch wieder an oder werden jemals erfahren, was aus ihnen geworden ist – wohl kaum, denn dafür sorgt dann das Datenschutzgesetz – nicht immer erfahren wir was passiert ist aber auch das gehört zu dem was wir tun.
 
Heute waren wir bei Menschen auf der Straße, die über sich selbst sagen, dass wenn man mal die Lebenssituation außer Acht lässt, dass es ihnen gut geht.
 
Sie leben eben mit ihrem Leben, sowie sie es leben und versuchen das Beste daraus zu machen und jeder von ihnen freut sich jedes Mal auf ein Neues, wenn wir zu ihnen kommen und nach ihnen schauen, selbst dann, wenn sie bereits schlafen.
 
Einer von ihnen sagte heute, dass er ein Buch schreiben wird und er uns darin nicht vergessen wird, weil er niemanden vergisst, der für ihn da war, selbst dann, wenn eigentlich nur seine Hülle da war und er selbst schlafen würde – er wüsste immer, dass wir nachschauen, ob alles in Ordnung ist und allein das macht uns schon zudem, was wir sind – Menschen, die es verdient haben, in seinem Buch erwähnt zu werden.
 
Das freut und aber ganz besonders hat es ihn gefreut und Freude macht das Herz warm und was ist bei diesen Temperaturen besser, als ein bisschen Wärme?!
 
Dann sind wir noch zu einem anderen Herrn, der immer gerne einen Tee trinkt und diesen mit so viel Zucker trinkt, dass eigentlich kaum noch Wasser in dem Becher – Platz findet und der am liebsten unsere Sonja behalten würde, weil er sie so nett findet.
 
Aber da gibt es kein Wenn und Aber – Sonderwünsche dieser Art sind ausnahmslos gestrichen – sie ist ja schliesslich unsere Sonja und nicht seine.
 
Danach ging es weiter und wir konnten auch an anderen Stellen helfen und unterhielten uns, nahmen uns Zeit und sprachen und lachten gemeinsam.
 
Bei einem Herrn planten wir wie es weiter geht und sahen in seinen Augen, dass ihm dieser Plan sehr gut gefiel.
 
Und dann fuhren wir irgendwann wieder nach Hause – mit den Gedanken im Kopf, dass wenn wir wieder kommen, es den Menschen auch noch morgen oder übermorgen gut geht, dass sie vielleicht, während wir nicht da sind, eine Unterkunft finden, dass sie eben nicht krank werden oder etwas Schlimmeres passiert, weil die Psyche ihnen irgendwann gesagt hat – dass das Leben, sowie sie es führen, kein Leben mehr ist.
 
Wir sind alle aus Fleisch und Blut, wir machen keine Unterschiede zwischen arm und reich – außer das der kleine und feine Unterschied zwischen reich und arm, der ist – dass die eine Seite ein Quäntchen mehr Glück in ihrem Leben hatte und die andere eben nicht.
 
Wir bestehen alle aus Fleisch und Blut und niemand von uns wünscht sich dort zu liegen, wo Sonja arbeitet, niemand von uns möchte jemanden verlieren, den er oder sie lieb hat, niemand möchte Gewalt spüren und niemand möchte dort leben, wo wir fast täglich sind, um zu helfen.
 
Alle wünschen sich ein Leben zu führen, dass sich jeden Tag weiterdreht und wenn es dann mal stockt, jemanden zu wissen, der einem zur Seite steht.
 
Schaut zu denen hin, denen dieses Geschenk nicht gemacht wurde – reicht ihnen eure Arme und nehmt sie ein Stück mit auf eurem Weg – lasst diese Menschen mit euch zusammen, die Welt gemeinsam weiterdrehen – immer mit dem Gedanken daran, dass wir alle gleich sind und egal was es ist – es jeden von uns genauso hart treffen könnte.
 
Danke fürs lesen – dass ist schon ein erster Schritt, in die richige Richtung