Mich macht es demütig

Samstag wieder on the road again – dieses Mal in einer Nachtschicht. Abfahrt am Lager ca. 23:30 – Ende offen. Auf den Nachttouren treffen wir weniger obdachlose Menschen an, die meisten haben sich bereits an ihre Schlafplätze zurückgezogen. Wer jetzt noch unterwegs ist und Hilfe benötigt, hat ein Problem – sämtliche offiziellen Stellen sind geschlossen und nicht immer ist ein Notruf möglich. Grund genug für Unsichtbar, auch nachts noch einsame Runden zu drehen. Außer Holger und mir ist noch Susanne an Bord, die heute ihre erste Tour mitfährt. Wir sind auch privat befreundet und natürlich habe ich bereits einiges an Infos an sie weitergegeben. Holger nutzt die Zeit während der Fahrt, um uns mit weiteren Details über Unsichtbar, seine Philosophie und Tipps zu versorgen.
Wir fahren einen bekannten Schlafplatz an, melden uns leise – und tatsächlich treffen wir einen alten Bekannten an. Verschlafen freut er sich und wir können seine bescheidenen Wünsche erfüllen.
In dieser Nacht haben mich 2 Schicksale ganz besonders berührt. Das erste betrifft noch nicht mal einen obdachlosen Menschen, sondern eine junge Frau, die wir in ihrer Nachtschicht antreffen. Sie erzählt Holger von Ereignissen in ihrem Leben, die andere – weniger starke Menschen – auf die Straße hätten bringen können. Es scheint, als habe Holger zur richtigen Zeit den richtigen Knopf gedrückt, der sie Vertrauen fassen und erzählen lässt. Es ist wie bei der jungen Frau am Bahnhof, die eher der Tochter aus „gutem Hause“ als einer obdachlosen Frau gleicht – ich hätte diese junge Frau ebenfalls umarmen und mit nach Hause nehmen können. Gravierender Unterschied: Die junge Frau von Samstagnacht hat eine Wohnung…
Wir fahren weiter nach Wuppertal – wieder zu einem alten Bekannten. Ich sehe ihn zum 2. Mal und bin wieder beeindruckt, wie höflich und bescheiden er ist. Wir erfahren von Holger dessen Geschichte – und jetzt kann ich nicht mehr, kann die Tränen nicht zurückhalten.
Und wieder stelle ich mir die Frage, was es mit einem macht, wenn man beruflich und ehrenamtlich von so vielen traurigen, schlimmen Schicksalen erfährt. Von Menschen, die daran zerbrechen. Und von anderen, die eine fast unmenschliche Kraft aufbringen und ihr Leben meistern – was auch immer das genau heißen mag.
Mich macht es demütig.