Darf ich in deine Wohnung eintreten?

Darf ich in deine Wohnung eintreten?
Für uns eine Frage, die in gewisser Maßen selbstverständlich ist, wenn wir zu einer fremden Person gehen und fragen, darf ich eintreten?
Oder wenn wir uns für etwas bedanken, wie zum Beispiel, wenn wir bei einer/m Freund:in für ein/zwei Nächte unterkommen dürfen und uns dafür bedanken, dass wir in ihrem Wohnzimmer schlafen dürfen – auch hier eine Selbstverständlichkeit.
Doch eine Geschichte, die mich heute sehr berührt hat und auch sprachlos gemacht hat, war als uns Sven (Name geändert) erzählte, dass er diese Frage jeden Tag, der Person stellt, die auf einer Treppe schläft, draußen im Irgendwo und sich dafür bedankt, dass er ihn, in seinem „Wohnzimmer“ übernachten lässt.
Ich bin zugegeben noch immer sprachlos und mir fehlen die Worte.
Sven lebt noch gar nicht so lange auf der Straße und das was er erlebt hat, dass möchte niemand erleben, denn seine Geschichte, zieht einem den Boden unter den Füßen weg und macht sich im Kopf breit und lässt sich dort nieder, ohne nur in geringster Weise auf die Idee zu kommen, sich aus den Gedanken, die wir heute mit nach Hause genommen habe, zu verflüchtigen.
Sein Leben, das war schön – er hatte eine Frau, eine Tochter und das zweite Kind war auf dem Weg. Er ging einer täglichen Arbeit nach und lebte den Traum einer jungen glücklichen Familie.
Bis an den Tag, als sich seine Welt verändern sollte und plötzlich nichts mehr so war, wie es einmal war, denn plötzlich fehlte ein Familienmitglied, von jetzt auf gleich, ohne dass auch nur eine Vorwarnung im Raum stand, denn eines Morgens, als er zu seiner Tochter ins Zimmer ging und sie zum Frühstück wecken wollte, lag sie Tod im Bett – reglos – diese kleinen zierlichen Augen verschlossen – so still und leise, als würde sie noch immer schlafen.
Doch ihr Schlaf sollte für die Ewigkeit sein und seine erst 6 Monate alte Tochter war plötzlich nicht mehr da – sie war einfach gegangen.
Kindstod mit 6 Monaten, super selten aber es passiert und es passierte seiner Tochter, seinem Engel, den er über alles geliebt hatte und dann vor 5 Wochen starb seine Mutter, ebenfalls unerwartet, wie aus dem Nichts – ein Anruf – Mutter ist verstorben…
Zwei Schicksalsschläge unmittelbar hintereinander, niemand mit dem er sprechen wollte, niemand den er an sich heranlassen wollte, nur seine Krankheit Borderline stand plötzlich realer, als je zuvor vor ihm und er gab sich für all das was passiert war die Schuld – lies sich auf nichts ein, niemand konnte ihm diesen Gedanken ausreden und niemand durfte ihm zu nahetreten, auch seine schwangere Frau nicht.
Das Einzige, dass er von nun an, an sich heran lies, war Freund Alkohol, jemand der ihn von Anfang an verstand, der seine Gedanken und Gefühle lahm legte und ihn in eine Welt abtauchen ließ, in der nur er ganz allein war.
Doch Freund Alkohol war kein Freund, sondern ein Verräter, der nur eins von ihm wollte und das war ihn noch mehr kaputt zu machen, als er es bereits war.
Ende des Liedes war – Job weg, Frau weg, Wohnung weg – alles weg und er suchte sich, immer noch im Glauben, dass er an all dem Schuld sei, als Bestrafung die Straße aus, vor der eigentlich panische Angst gehabt hatte und auch noch hat, denn alleine sein ist eigentlich nicht seins und dann in der Dunkelheit, weit und breit keine Menschenseele – dass ist der vollkommene Horror für ihn, bis zu dem Tag als er den Herrn mit dem Krampfanfall kennenlernen durfte, auch ein obdachloser Mensch, der – der sein Zelt nicht aufstellen darf, weil das wäre Wildcamping, aber geduldet werden würde, wenn er unter freiem Himmel schlafen würde.
Und jeden Abend, wenn er wieder zu ihm kommt, steht er vor dem Schlafplatz und fragt, ob er seine Wohnung betreten darf und dann schaut er uns an und sagt:
Ich bin so sehr dankbar, dass er mir erlaubt, in seinem Wohnzimmer schlafen zu dürfen!
Eine Thermohose wollte er erst gar nicht annehmen, das ginge doch nicht, wir haben ihm doch schließlich schon in den vergangenen Tagen, eine Isomatte und einen Schlafsack geschenkt und heute dann auch noch den Kaffee und die Suppe.
Ich schaute ihn kurz an und dann sagte er: Okeeeee, wenn ich niemanden etwas wegnehme, so eine Thermohose, wäre schon wirklich was Feines.
Während dessen fragte uns der Herr mit dem Krampfanfall, wie es uns denn gehen würde?
Gut sagten wir, alles im Lot, wodrauf dann die Antwort kam, dass er uns das nicht glauben kann, wir sind schließlich jede Nacht unterwegs und fahren rum, um zu helfen und das sowas doch irgendwie nicht normal sein kann.
Wir sind gerne nicht normal!
Er würde uns auch gerne seine Geschichte erzählen, doch dafür bräuchten wir eine Sitzgelegenheit, denn es könnte länger werden – kein Problem, antworteten wir, beim nächsten Mal bringen wir Stühle mit und dann lauschen wir seiner Geschichte.
– Wir machen das wirklich –
Eine Tour die eigentlich nur eine kurze Tour werden sollte, wurde dann aber schon fast zu einer Mega Tour.
Anfangs so gegen 21:00 Uhr holte Thorsten und ich, Regine ab und machten uns auf den Weg nach Bochum.
Am Bahnhof waren bereits alle gut versorgt und wir machten uns weiter, um zu schauen, wie es den anderen uns bekannten Menschen ging.
Fünf von ihnen, an den unterschiedlichsten Stellen, durften wir einen heißen Kaffee und eine heiße Suppe anbieten und danach ging es nach Hagen – auf dem Weg dort hin brachten wir Regine nach Hause, denn ihr Wecker klingelt um 05:00 Uhr und da wir noch nicht an der Zeit drehen können, musste die Frau ins Bett, um zu schlafen.
Danach machten Thorsten und ich uns weiter auf nach Hagen – hier durften wir auch helfen und trafen auf ein altes bekanntes Gesicht, die uns freundstrahlend erzählte, dass sie nun einen Krankenkarte bekommen hätte, Geld vom Amt und nun auf der Suche nach einer Wohnung sei.
Eine Isomatte, vier Kaffee und vier Suppen und ein Handy zauberten diesen Menschen ein Lächeln ins Gesicht.
Und dann ging es nach Wuppertal
Eigentlich wollten wir nach Hagen Feierabend machen, doch gerade, wenn wir irgendwie das Gefühl haben, wir müssen noch unbedingt woanders hin, dann folgen wir dem Gefühl und das war auch gut so, denn auch hier durften wir drei Kaffee und drei Suppen verteilen und lernten an der bereits beschrieben Stelle wieder etwas Neues kennen.
Nichts auf dieser Welt ist selbstverständlich – denn das nächste Mal, wenn ich frage, ob ich die Wohnung einer Person betreten darf, wird mir wohl für immer die Geschichte von Sven durch den Kopf gehen und jedes Mal, wenn ich mich für etwas bedanken oder sich jemand bei mir für irgendwas bedankt, all das aus einem anderen Blickwinkel sehen und es zu schätzen wissen.
Sven durfte in den vergangenen Tagen, dass erste Mal seinen Sohn sehen – ob er nicht etwas ändern möchte, fragten wir ihn.
Er ist noch nicht soweit, seine Schuldgefühle lassen ihn einfach nicht los.
Dann fragten wir den Herrn mit dem Krampfanfall, wass denn mit seiner betreuten Wohnung wäre, die er ja schon längst hätte beziehen können?
Darauf kam aber keine Antwort und ich fragte ihn etwas, dass ich vermutet hatte.
Hast du Angst davor, wenn du nicht mehr da bist, dass Sven dann endgültig unter die Räder kommt, weil er ihr so dicke Freunde geworden seid?
Er schaut mich an , gab mir aber keine Antwort!
Nichts ist selbstverständlich, auch eine wahre Freundschaft nicht, die Sven mit Sicherheit in diesem Menschen gefunden hat, der für seinen Freund auf eine Wohnung verzichtet, nur um ihn nicht alleine lassen zu müssen!
Nicht die obdachlosen und armen Menschen sollten sich eine Scheibe von der „gesunden“ Gesellschaft abschneiden – es ist die Gesellschaft, die sich eine Scheibe von diesen Menschen abschneiden sollten, denn nichts ist so selbstverständlich, wie das leben der Menschen, die auf der Straße leben und nichts davon ist so ergreifend, wie ihre Geschichten, die sie uns erzählen.
Nun haben wir 04:30 Uhr und ich nehme diesen besonderen Abend mit ins Bett und werde mich Sicherheit, noch lange Zeit darüber nachdenken.