Stille

Gestern ging es für Sabine und mich nach Bochum. In letzter Zeit ist es sehr ruhig. Wir vermuten, dass einige unserer Schützlinge nachts untergekommen sind, was uns freut. Jedoch ist es nicht immer einfach für uns, besonders, wenn einige unserer Sorgenkinder wochenlang unauffindbar sind. Oft schon haben wir im Nachhinein erfahren, dass jemand ins Krankenhaus musste oder sogar verstorben ist. Daher schwingt neben der Hoffnung auch immer etwas Sorge mit.

Wir hatten gestern allerdings ein schönes Erlebnis: Eine Dame, die wir seit einiger Zeit nicht gesehen haben, konnten wir in der Nähe ihres Stammplatzes wiederfinden. Sie hat uns auch sofort wiedererkannt und sich gefreut, dass wir Sie versorgen konnten.

Was Sabine und mich am meisten beeindruckt hat, war, wie frisch die Dame aussah. Denn eine Sache, die ich bei meiner Zeit bei Unsichtbar gelernt habe, ist, dass man das Alter der Menschen, um die wir uns kümmern nur sehr schwer einzuschätzen ist. Die Dame, die wir gestern wiedertrafen, hatte ich immer locker zwanzig Jahre älter geschätzt als sie gestern aussah. Die Wangenknochen waren ein bisschen voller, die Haut war sauber und klar und die Haare waren nicht so strubbelig sondern glänzten. Sie strahlte richtig.

Es ist einfach Wahnsinn, was ein paar Wochen aufpäppeln in einem Krankenhaus, in einer Einrichtung oder bei Freunden ausmacht. Im Umkehrschluss zeigt das aber vor allen Dingen doch eine Sache: Das Leben auf der Straße ist hart, wenn es Menschen zwei Jahrzehnte altern lassen kann. Es hinterlässt Spuren.

Und was es auch zeigt: Wir alle sind nur ein paar Wochen auf der Straße davon entfernt, auch älter und mitgenommener auszusehen. Daher lasst uns immer daran denken, das hinter dem, was die Gesellschaft als ungepflegt abtut, als „will ich nichts mit zu tun haben“, jemand steht wie Du und ich. Wie unsere Väter, Mütter, Kinder, Tanten, Onkel, Freunde, Arbeitskollegen. Und lasst es uns niemals an Respekt mangeln, diesen Menschen genau so zu begegnen, wie wir es uns für unsere eigene Familie oder unsere eigenen Freunde wünschen würden.