Ich wünsche Dir niemals ein Geist zu werden

Ich fahre zurück nach Hause, von unserer Tour, die Uhr auf dem Display zeigt 04:45 Uhr an und der Bodennebel, der mir entgegenkommt, sieht aus – als würden sich ganz viele Geister aus dem Asphalt, auf das Auto stürzen und so schnell wie sie sich sammelten, auch gleich wieder in Luft auflösen.
 
Was wäre, wenn, dachte ich in diesen Moment, als sich mir dieses Bild ergab, was wäre – wenn das wirklich alles Geister wären, die sich noch einmal zeigen würden und dann für immer verschwinden würden?
 
Geister und Erinnerungen aus dem Leben, wie es ist, wie es vielleicht danach ist, dass hier und das Jetzt und dem davor und dem danach.
 
Geister kann man eigentlich nicht sehen, es sei denn sie zeigen sich dir und Erinnerungen kann man leben, wenn man sich dann erinnern möchte.
 
Und nun sitze ich hier und schreibe diesen Bericht und erinnere mich an die vielen intensiven und längeren Gespräche mit den Geistern, denen wir heute begegnet sind, die eigentlich aber gar keine Geister sind und wenn, dann nur aus der Sicht derer die sie nicht sehen, nicht sehen wollen.
 
Und ich erinnere mich an die vielen Gespräche mit diesen Menschen, die immer wieder in Gedanken für einen Moment verschwinden und sich an das erinnern, was einmal war und an das, wie es vielleicht niemals wieder sein wird.
 
An Augenblicke, in denen uns erzählt wird, dass die letzten 10 Jahre Obdachlosigkeit irgendwie an einem vorüber gegangen sind, so als hätte man diese Zeit verschlafen – plötzlich waren sie vorbei und man könnte sich gar nicht daran erinnern, wo sie doch eigentlich geblieben sind.
 
An den Menschen, der nicht versteht, dass vieles plötzlich passiert und auch funktioniert, immer wieder wenn es irgendwas aktuelles zu sehen gibt, er aber weiterhin ein Geist bleibt, weil man Geister eben nicht sieht und selbst wenn er sich zeigt, sowie er da in der Bushaltestelle sitzt, seinen Kopf vor Müdigkeit gesenkt und leicht zur Seite gekippt, weil der Körper ihn nicht mehr halten kann, weil er vor lauter Erschöpfung, keine Kraft mehr hat, aufrecht zu sitzen, wird er nicht gesehen und verschwindet für viele, so als wäre er gar nicht da.
 
Oder auch die Person, die emotional Hoffnung hat, dass sich sein Leben bald verändern wird und er schon bald nicht mehr nur als Geist an einem Ort sitzt, an dem so sehr viel vorüber gehen, selbst der Herr, der uns heute 15,00 Euro als Spende überreicht hat und uns für unsere tolle Arbeit gelobt hat, selbst dieser Mensch, schaute nicht für einen Augenblick hinunter, um den Geist zu sehen, mit dem wir gerade gesprochen hatten und für das was wir tun und er uns noch keine Minute vorher gelobt hat, dass wir uns um diese Menschen kümmern. Selbst dieser Mensch, sieht diesen Menschen nicht, der sich in diesem Augenblick sehr wahrscheinlich selbst, als Geist gesehen haben muss.
 
Wir drücken dir von Herzen die Daumen, dass sich deine Hoffnung erfüllt, schon bald ein besseres Leben führen zu können.
 
Nebel, der aufsteigt, ist so ein bisschen wie Geister, die tanzen und Geister sind so ein bisschen wie obdachlose Menschen, die man nicht sieht und wenn der Nebel verschwindet und die Geister leise werden, dann verschwinden auch diese Menschen für die, die sie vorher schon nicht gesehen haben, irgendwo, im nirgendwo.
 
Es tut weh und es schmerzt mitzuerleben, mit welcher Ignoranz Menschen an Menschen vorüber gehen und einfach darüber hinwegblicken, was so sehr offensichtlich ist, doch eigentlich gesehen werden, zu müssen.
 
Es schmerzt in diesen Augenblicken in die Augen derer zu blicken, die innerlich danach schreien, nur eines Blickes gewürdigt zu werden und es macht jedes Mal wieder so sehr traurig, ihnen nicht die Hoffnung geben zu können, dass sich das irgendwann einmal ändern wird.
 
Umso schöner ist es dann aber ein paar Funken in ihren Augen zu erblicken, wenn wir zu ihnen kommen, wenn wir aus jedem Geist – eine Person machen, jemand reales aus ihnen entstehen lassen und wir uns dann mit diesen Menschen unterhalten, uns für sie interessieren und sowie auch heute, bei jedem von ihnen schon fast eine Stunde bei ihnen bleiben um mit ihnen zu sprechen.
 
Augenblicke, die nicht nur wir verinnerlichen und die wir jeden Tag leben, auch diese Menschen erstrahlen für einen Augenblick, wenn wir sie sehen und sie wahrnehmen und sie nicht betrachten, wie den Morgennebel, der mir auf der Heimfahrt begegnet ist und nachdem ich dann weiterfuhr, und er dann für immer verschwand.
 
Wenn wir diese Menschen verlassen, bleiben sie dort, wo sie leben, und sie lösen sich nicht auf wie der Nebel oder wie ein Geist, sie bleiben an Ort und Stelle und träumen weiterhin davon, gesehen zu werden und nicht wie der Nebel im Wind, zu verschwinden.
 
Es wird Zeit ins Bett zu gehen und es wird auch Zeit diese Menschen zu sehen, denn es sind keine Geister, es sind Menschen, wie du und wie ich – das Einzige was uns unterscheidet – ist, dass jeder von uns, der nicht so leben muss, wie diese Geister, dort draußen auf der Straße, einfach nur einen Funken mehr Glück gehabt hatte.
 
Niemand von uns möchte ein Geist sein, niemand von uns möchte dieses Leben, leben und gerade deshalb sollten wir all diese Geister sichtbar machen und ihnen dafür danken, dass wir so leben dürfen, wie wir leben dürfen, denn würde es diese Menschen nicht geben, würden sich niemand von uns nur im Ansatz ein Bild davon machen können, was passieren „könnte“, wenn auch uns irgendwann einmal dieser Funken Glück verlassen würde.