Leitplanken – Hilflosigkeit aushalten können

Hilflosigkeit aushalten können
Bei unserer letzten Tour durch die große Stadt im Tal ist viel passiert.

Ich (Olli) war das erste Mal der Fahrer und eins kann ich Euch sagen, als der Forrest Gump vom Land war ich mehr als froh, dass Martina mir bei der Navigation durch die Nacht zur Seite stand.

Wir waren sogar zu dritt unterwegs. Ernst, der sich für unsere Arbeit interessiert, hat uns begleitet. An unseren ersten Anlaufpunkten trafen wir niemanden an. Kurze Zeit später an einem zentral gelegenen Punkt kamen aber dann viele Straßenmenschen zu unserem Auto.

Eine Begegnung hat mich und ich glaube auch Martina und Ernst sehr nachdenklich gemacht. Wir lernten einen Herrn kennen, der sehr leise und zurückhaltend war und eher schüchtern im Hintergrund wartete, bis wir die, die vielleicht ein wenig lauter waren, versorgt hatten.

Es war nicht einfach, mit ihm zu kommunizieren, wir merkten schnell, dass es ihm mindestens in dieser Nacht gar nicht gut ging. Er wollte uns gern etwas erzählen, musste aber immer wieder unterbrechen, weil er weinen musste. Da stehst Du dann mitten in der Nacht in der Kälte und würdest so gern etwas tun, denn da steht ein Mensch vor Dir, der Hilfe braucht.

Was wir in diesem Moment anbieten können, erscheint einem dann vielleicht kläglich wenig. Solche Begegnungen nehme ich immer auch mit nach Hause, denn das Engagement für UNSICHTBAR e.V. und für die Straßenmenschen ist für mich wörtlich eine Herzenssache. Aber ganz oft ist es gut, Herz und Kopf miteinander in Einklang zu bringen. Auch wenn das Herz mir vielleicht in dem Moment sagt, dass ich jetzt alles tun muss, was nur irgend möglich wäre, der Kopf sagt mir etwas später: Du weißt nichts von diesem Menschen und Du bist ein Laie. Vielleicht wäre das, was Du in einem emotionalen Moment sagst, anbietest oder tust, schlicht falsch.

Mache ich Versprechungen, die ich nicht halten kann? Wecke ich Hoffnungen, die enttäuscht werden müssen? Maße ich mir nicht auch Kompetenzen an, die ich als ganz normaler Mensch ohne Ausbildung als Streetworker oder Sozialarbeiter schlicht nicht habe?

Ich bin durch diese Begegnung wieder etwas mehr innerlich gewachsen: Für mich ist die Beschränkung auf tätige Hilfe im Hier und jetzt genau der Weg, den ich gehen will. Es ist keine Beschränkung, sondern es sind Leitplanken, die mich davor schützen, aus den richtigen Gründen etwas Falsches zu tun.

Wir arbeiten mit Menschen, die gefährdet und verletzlich sind, oft auch schon Verletzungen an Körper und Seele erlitten haben. Für mich steht fest, dass langfristig erfolgreiche Hilfe für diese Menschen ein Marathon ist, den nur die Profis mitlaufen sollten. Ich stehe gern an der Strecke und helfe hoffentlich dabei, diesen Weg für die Straßenmenschen zu unterstützen.

Aber zurück zur Tour: Ernst konnte und musste bei seiner ersten Tour gleich „Straße“ in heftig erleben. Beim Debriefing nach der Tour sagte er, dass ihn die Begegnungen nicht erschreckt oder gar abgeschreckt haben, sondern dass er genau deswegen bei UNSICHTBAR e.V. dabei sein möchte.

Kudos und ein Fistbump an Dich, Ernst. Schön, dass Du bei uns bist.

Eigentlich könnte dieser (typisch für mich) eher lange Bericht an dieser Stelle zu Ende sein. Geht aber nicht, denn da war noch die Sache mit einem uns gut bekannten Straßenmenschen, den wir an seinem gewohnten Schlafplatz nicht antrafen. Sehr, sehr untypisch, er mag nicht gern mitten in der Stadt unter vielen Menschen sein und würde seinen Platz eher nicht verlassen. Die Zeit auf der Straße hat ihm in vielerlei Hinsicht zugesetzt, klar, dass wir uns Sorgen machten. Im Umfeld seines Platzes konnten wir ihn nicht finden. Mein nicht so kleiner innerer Nerd sagte sofort: Die Wärmebildkamera!

Natürlich nehmen wir dieses teure und sensible Gerät nicht einfach so mit auf unsere Touren, aber hatten wir uns einen Plan für den Fall der Fälle zurechtgelegt.

Holger hat nicht lang gefragt und wir trafen uns am Lager. Angesichts der schon frühen Stunde beendeten Martina und Ernst die Tour und für mich und Holger ging es zurück in die große Stadt. Getestet und geübt hatten wir natürlich, aber jetzt war Ziehung.

Holger übernahm das Steuer und ich machte „das fliegende Auge“. Na gut, eher das beifahrende Auge, aber das klingt nicht so cool. Bei langsamer Vorbeifahrt an einem Grünstreifen ganz in der Nähe seines Schlafplatzes hatte ich dann den nächsten Bazinga-Moment – unter den Büschen lag er in seinem Schlafsack, glasklar in der Optik der Kamera zu sehen. Zugegeben, mit ein bisschen mehr Erfahrung und Lateralblick hätte man den Herrn auch mit bloßem Auge sehen können, denn Holger und ich sagten gleichzeitig „Da ist er!“. Wieder was gelernt, beim nächsten Mal weiß ich besser, wie man das macht. Aber eins steht fest: Mit der Kamera konnte ich ohne jedes Problem unseren Herrn sofort ausmachen. Das gibt mir die Sicherheit, dass das auch ohne Wenn und Aber funktioniert, wenn es mal schnell gehen muss.

Der Herr hatte sich an seinem alten Platz bedroht gefühlt, warum spielt hier keine Rolle, und war ausgewichen, insgesamt ging es ihm aber gut. Wir waren erleichtert. Wir haben dann auch die Erlaubnis von ihm bekommen, das Bild der Kamera für unsere Berichte verwenden zu dürfen.

Danke für das Vertrauen.

Eine Terrine und einen Kaffee durften wir noch bereiten und dass ein weiterer uns bekannter Herr, den ich bei unserer ersten Runde schon vermisst hatte, uns aus der Ferne sah und rasch noch herüberkam und seinen geliebten Pudding doch noch bekam, machte diesen Einsatz am Ende „rund“.