Was bedeutet Zeit?

Was bedeutet Zeit?
Eine merkwürdige Frage? Nein – nicht, wem man sie aus der Sicht eines obdachlosen Menschen stellt. Wie begreift ein Mensch, dessen Leben seit Jahren ohne Struktur abläuft, Zeit? Grund für diese Überlegung war die Aussage einer obdachlosen Frau, dass sie seit 10 Jahren mit ihrem Freund zusammen ist. Wir wissen nicht, ob sie auch seit 10 Jahren auf der Straße leben. Ich frage mich: Woher weiß sie so genau, dass es 10 Jahre sind?
Einige haben Handys, wenige haben ein Mini-Radio. Es gibt öffentliche Uhren und Datumsanzeigen. Alles dient der zeitlichen Orientierung…
Ich weiß, es ist vermessen – aber ich versuche es trotzdem. – Ich lebe also seit Jahren auf der Straße. Laufe rum, allein oder mit anderen, die obdachlos sind. Wir treffen uns, reden, erzählen uns – vielleicht – die immer selben Geschichten. Wir besorgen uns Alkohol und Drogen – denn so ist das, was wir erlebt haben, was uns auf die Straße getrieben hat und was wir seit Jahren täglich, nächtlich erleben, einfacher zu ertragen. Ich schieße mich so ab, dass ich 2 oder 3 Tage völlig desorientiert bin. Und das immer wieder. Interessiert mich dann noch, welcher Tag ist? Welchen Monat wir haben? Die Jahreszeiten wechseln, ich muss zusehen, dass ich im Winter warme Klamotten, einen Schlafsack, eine Isomatte kriege. Ich kann nicht viel besitzen, weil ich mein gesamtes Hab und Gut mit mir rumtrage. Habe ich einen – vermeintlich – sicheren Schlafplatz gefunden und lasse Schlafsack und Isomatte dort, ist die Gefahr groß, dass alles geklaut wird. Silvester – ein Jahr ist rum. Weiß ich nach 3, 4, 5, 6, x Jahren noch, wie viele Silvester ich erlebt habe? Mein Vorstellungsvermögen stößt an seine Grenzen.
Wir hören den obdachlosen Menschen zu – aber wir bedrängen sie nicht. Und was sie uns erzählen, das bleibt bei uns.
Heute gibt es diesen Fall: Einen sonst gut gelaunten, redegewandten Herrn treffen wir an seinem Schlafplatz an – verschlafen, alkoholisiert, kaputt. Er wollte weder etwas zu essen noch zu trinken, kam trotzdem zu uns an den Wagen: „Einfach reden“. Später hat er doch etwas zu sich genommen, wollte aber dann nur noch in seine Unterkunft. Ich bin sicher: Wir werden ihn wieder gut gelaunt und zu Späßen aufgelegt erleben. Er hat trotz aktuellem Sichnichtwohlfühlens den Kontakt zu uns gesucht – und das bedeutet Vertrauen. Und das ist wiederum eine Bestätigung der Philosophie von Unsichtbar.
Wir dürfen an weiteren Stellen helfen – hier gibt es ein sehr nettes Erlebnis: Wir haben als Spende einen großen Karton mit kleinen, gehäkelten Säckchen gefüllt mit Seifenstücken erhalten. Ein junger Mann ist total begeistert – einfach rührend. Er schnuppert an der Seife, untersucht das Säckchen, hüpft herum: „Das erinnert mich sooo an früher!“ – An dieser Stelle ein großes Dankeschön an die Spenderin/den Spender – die Säckchen mit den Seifenstücken kommen auch bei anderen gut an!
Bei aller Freude über diese Reaktion stellt sich aber auch wieder die Frage: Was ist passiert, was hat er erlebt, warum hat er weder Heim noch Arbeit?
Insgesamt dürfen wir – Andreas, Steffi und ich – in dieser Nacht insgesamt 20 obdachlosen Menschen in Hagen helfen.
Als wir uns am Lager trafen, waren Steffi und ich uns einig, dass wir uns auf die Tour freuen –fanden aber gleichzeitig, dass „freuen“ nicht der passende Ausdruck ist. Man freut sich auf Schönes – wir erfahren aber nicht immer Schönes auf unseren Touren und der Anlass ist auch nicht „schön“. Wir fanden jedoch eine passende Beschreibung: Es ist ein gutes Gefühl, wieder rauszufahren. Und das trifft auf jede Tour zu. Definitiv.