Der ICE in Gevelsberg ist vorbeigerauscht

6. Februar. Der ICE in Gevelsberg ist vorbeigerauscht, wir können über die Gleise. Da ist er: Der junge Mann, der per Telefon um Hilfe gebeten hatte. Wir statten ihn aus mit allem, was man so für mehrere Nächte im Freien gebrauchen kann. Der Wind frischt auf. Ein weiterer Zug donnert heran, verschwindet wieder. Wir wechseln ein paar Worte mit ihm. Er will im Wald schlafen. Es wird regnen, sagen wir, bestimmt sogar. Einen Hochsitz könnte er sich suchen, sage ich ihm, wohl wissend, dass es einige in der Nähe gibt. Er will im Zelt schlafen. Ich denke an trockene, im Sturm herabstürzende Äste – „Witwenmacher“ –, aber er ist sich sicher, ihm wird schon nichts passieren. Ich habe die Idee, er will sich vielleicht auf den Weg nach Paris machen, zu einem weinseligen Leben als Bohèmien. Noch ist er auf der Straße, andere… stecken schon tief drin. Wir fahren weiter nach Hagen. Der Regen kommt.
Auf der Fahrt: was man so austauscht – Gewesenes, Gegenwärtiges, Erwartetes. Holger hat den Verkehr im Auge, ich die Bürgersteige. Ich achte nicht darauf, wohin wir fahren, bis ich das Kopfsteinpflaster erkenne. Wir steigen aus. Holger geht mit der Wärmebildkamera los, ich mit der Taschenlampe. Ein neuer Schlafsack, eine neue Isomatte – das uns bekannte Lager ist bewohnt, aber man erkennt’s nur, wenn man weiß, worauf man in all dem Müll achten muss. Hier gibt’s nichtmal Ratten, stellt Holger fest; der ganze Platz ist so tot wie ein Aufzugsschacht und wäre die perfekte Kulisse für einen 80er-Jahre-Low-Budget-Zombieschocker. Und da steht auch schon eine passende Gestalt im nassen Halblicht: Ein Mann, leicht schwankend, stumm starrend. Er erkennt uns mit frohem, freundlichem Gruß und fragt nach Essen. Es gibt Suppe und Kaffee. Er bittet um ein paar Minuten, wir unterhalten uns. Genau das ist unser Job. Der Mann ist so alt wie wir. Ein bisschen betrunken, aber wachen Geistes, freundlich, müde und traurig, und fragt: Hast du Radio. Bin ich so alleine.
Eine Welle von „Will ich das hier eigentlich wirklich?“ schwappt über mich, und dann: Doch. Doch, will ich. Jemand muss das hier nämlich machen, und zwar besser jemand, der es gerne tut. Wir fahren weiter. Ein bisschen noch. (Rüdiger)